
© Andreas Klaer
Gewaltprävention für Willkommensschüler in Potsdam: Wie sich Frauen und Flüchtlinge selbst behaupten
Willkommensschüler der Potsdamer Leonardo da Vinci-Schule erlernen Gewaltprävention. Das Interesse an Selbstverteidigungskursen ist gestiegen.
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Schulnoten für Selbstverteidigung: „Wenn ich draußen auf der Straße eine Auseinandersetzung habe, dann gibt’s eine Sechs, wenn ich nicht vorbereitet bin“, sagt Kampfsportlehrer Lars Geigenmüller in die Runde der elf Schüler und bittet einen von ihnen nach vorne. Im Rollenspiel gibt Geigenmüller dem 15-jährigen Loai einen kleinen Schubser und deutet einen Schlag an. Loai bleibt perplex stehen. „Er hatte dem nicht entgegenzusetzen, das wäre eine Sechs“, sagt Geigenmüller.
Die Schulnoten sind natürlich nur symbolisch, sie sind Teil des Gewaltpräventionstrainings, das am Montag in der von Geigenmüller geleiteten Wing Tsun-Selbstverteidigungs-Schule in Waldstadt stattgefunden hat. Teilnehmer sind elf Schüler der Willkommens-Klasse der Leonardo da Vinci-Schule, sie stammen unter anderem aus Syrien, Afghanistan oder Vietnam. Finanziert wird der Kurs über private Spenden.
Vertrauen und Selbstbewusstsein aufbauen
„Das Thema Gewaltprävention und Mediation mache ich schon lange mit meinen deutschen Schülern, das wollte ich auch mit meinen Willkommensschülern machen“, sagt Kerstin Richter, Lehrerin für Englisch und Deutsch als Zweitsprache und Leiterin der Willkommensklasse. „Es geht darum, Vertrauen und Selbstbewusstsein aufzubauen und Jugendliche für alle Lebenslagen zu stärken, zum Beispiel gegen Mobbing“, sagt Richter.
Genau das ist auch der Ansatz der Selbstverteidigungs-Schule: „Es geht hier nicht darum, einen auf cool oder Macho zu machen“, sagt Geigenmüller zu den Jugendlichen. Es geht auch nicht darum, zum Kampfsportler zu werden, Kampf- und Abwehrtechniken sind nur das letzte Mittel, um im Notfall vorbereitet zu sein. Stattdessen will Geigenmüller vor allem, dass die Jugendlichen so selbstbewusst und aufmerksam werden, dass sie gefährliche Situationen schon im Keim ersticken können. „Täter suchen sich immer Opfer, nie Gegner“, sagt Geigenmüller.
Mentale Stärke
Um bei den Schulnoten zu bleiben: „Sechs bis Fünf bedeutet, man ist in der Opferrolle, Vier bis Drei ist Selbstverteidigung, Zwei bis Eins ist Selbstbehauptung“, so Geigenmüller. Er macht es vor: Diesmal darf Loai den Angreifer spielen, doch Geigenmüller steht da wie eine Wand, stößt die Handfläche abwehrend nach vorne und ruft laut: „Halt! Stopp! Verschwinde!“ Schüler und Lehrer sind sichtlich beeindruckt. „Mimik, Gestik und Stimme waren eins“, so Geigenmüller. Verteidigung war gar nicht nötig.
In den folgenden Rollenspielen gehen die Schüler auf diese Weise verschiedene Konfliktsituationen durch, vom „Stopp!“-Sagen bis zu dem Punkt, an dem sie am Arm festgehalten werden, eine Befreiungstechnik anwenden und dem Angreifer einen Stoß verpassen müssen. „Es macht Spaß“, sagt die 17-jährige Jean aus Syrien über das Training. „Es geht für mich darum, im Kopf und im Körper stärker zu werden.“ Die mentale Stärke, das sagt auch Geigenmüller, ist genauso wichtig wie die körperliche: „Ihr müsst lernen, dass eure Stimme auch ein Fauststoß sein kann.“
Mehr Interesse an Selbstverteidigung
Das Interesse an Selbstverteidigung sei deutlich gestiegen, so der Kampfsportlehrer: „Bei jedem Training sehen wir hier neue Interessierte, vermehrt auch Frauen.“ Zwei Wochen nach Silvester hatte die Wing Tsun-Schule einen kostenlosen Schnupper-Kurs zur Selbstverteidigung für Frauen angeboten – und der sei sofort ausgebucht gewesen. „Etwa die Hälfte der 16 Teilnehmerinnen hat weitergemacht“, sagt Geigenmüller. Der Zeitpunkt mag dabei auch eine Rolle gespielt haben: Als Grund hatten viele der Teilnehmerinnen die sexuellen Belästigungsvorfälle und Diebstähle an Silvester in Köln genannt, so Geigenmüller. Auch Mitarbeiterinnen in Pflege- und Altenheimen seien verstärkt an Selbstverteidigung interessiert, schließlich arbeiten sie oft nachts allein in den Einrichtungen.
Und es gibt noch eine weitere Interessenten-Gruppe: Flüchtlinge. „Viele Flüchtlingsheime sind nachts nicht bewacht, auch da gibt es Angst“, sagt Geigenmüller. Durchaus verständlich, angesichts von bundesweit 163 gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsheime allein im letzten Jahr. Geigenmüller betreibt in Potsdam und in Teltow-Fläming insgesamt sieben Selbstverteidigungs-Schulen, dort hatte es in den letzten Monaten Anfragen von 60 bis 80 Flüchtlingen nach Selbstverteidigungskursen gegeben.
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