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Homepage: Wie wahr ist die Wirklichkeit? Inszenierte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg

Als der Erste Weltkrieg sich schon seinem Ende zuneigt, entführt Charlie Chaplin den deutschen Kaiser. Bei einem Besuch des Staatsoberhauptes verkleidet sich Chaplin als deutscher Offizier, wird Chauffeur des Kaisers und fährt mit ihm durch die feindlichen Linien in Frankreich zur dortigen amerikanischen Front.

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Als der Erste Weltkrieg sich schon seinem Ende zuneigt, entführt Charlie Chaplin den deutschen Kaiser. Bei einem Besuch des Staatsoberhauptes verkleidet sich Chaplin als deutscher Offizier, wird Chauffeur des Kaisers und fährt mit ihm durch die feindlichen Linien in Frankreich zur dortigen amerikanischen Front. Am Ende seines Hasardeurstückes wacht er allerdings als Rekrut in einem Feldbett auf.

„Gewehr über“ ist der Titel von Chaplins Film, auf den sich die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Dorota Sajewska bei ihrem Vortrag am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) bezog. Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Die Kriegsgemetzel spielten sich auf mehreren Kontinenten ab. Schließlich trat auch Amerika in den Krieg ein. Dorota Sajewska fragte nun danach, wie die Vergangenheit nachträglich rekonstruiert und inszeniert werden kann. Was passiert, wenn der Krieg nachgestellt wird? Die Wissenschaftlerin unternahm eine Reise durch Filme und Fotos, die das kollektive Bild vom Ersten Weltkrieg geprägt haben. Sie schilderte die verschiedenen Strategien, sich mit den Zeugnissen der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Die politischen Gründe, die zum Krieg geführt haben, interessieren die Wissenschaftlerin dabei nicht. Es geht ihr um die nachträgliche Wahrnehmung des Geschehens, darum, welchen Einschnitt der Krieg in der Selbstwahrnehmung der Soldaten bedeutet hat und wie die Medien auf den Krieg reagiert haben. Archive, Bildatlanten und Filme dokumentieren das Vergangene. Die Wieder-Inszenierung der Vergangenheit in Film und Theater halten einige Wissenschaftler für eine eigene, alternative Logik als Ergänzung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung in Archiven. Was allerdings umstritten sei, so Sajewska.

„Die nach dem Ersten Weltkrieg ständig gegenwärtigen Bilder, die die menschliche Bestialität, Schmerz und Angst ins Gedächtnis riefen, führten nicht zum Vergessen, sondern zu einer fast zwanghaften Notwendigkeit, die traumatischen Ereignisse zu rekonstruieren und zu reanimieren“, sagte die Wissenschaftlerin. Im Ersten Weltkrieg habe das damals neue Medium Film bei der Kommentierung, Wertung und Erfahrung des Krieges erstmals eine wichtige Rolle gespielt. „Kameras begleiteten das Geschehen ununterbrochen und registrierten fast alle Bewegungen.“

Das erkannte auch Charlie Chaplin. Er selbst schrieb das Drehbuch, führte Regie, spielte die Hauptrolle, schnitt den Film und steuerte auch noch die Musik zu „Gewehr über“ bei. Dennoch war er sich nicht sicher, ob eine Komödie das richtige Medium sei, um sich mit dem ernsten Thema Krieg zu befassen. Er wollte den Film zunächst vernichten. Der Schauspieler Douglas Fairbanks hielt ihn nach einer Probevorführung davon ab. In den Kinos war der Film dann sehr erfolgreich. Besonders realistisch gelangen Chaplin Szenen, die Soldaten in Schützengräben zeigten, im Matsch, in mit Wasser vollgelaufenen Bombentrichtern. Als er den Film 1959 nochmals veröffentlichte, montierte er Originalaufnahmen aus dem Krieg ein. Die zeigten, wie realistisch seine Hollywood-Inszenierung war. Die Montagetechnik sei maßgeblich bei der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, so Sajewska. Denn die Montage werde am ehesten der Explosivität des Krieges, der alle Kontinuität aufriss, gerecht.

Unwirklich kam dagegen den Soldaten, die im Jahr 1914 den „Weihnachtsfrieden“ erlebt hatten, die selbst erlebte Realität vor. Der „Weihnachtsfrieden“ war ein ungeplanter Waffenstillstand in Flandern, aber auch an anderen Teilen der Front. Von den jeweiligen Heeresleitungen nicht angeordnet, verbrüderten sich Soldaten über die jeweiligen Schützengräben hinweg, gingen aufeinander zu, sangen gemeinsam, tauschten Zigaretten. Als einer der Soldaten die Szene später im Kino sah, kommentierte er: „Ich musste es mir noch einmal ansehen, um an das zu glauben, was hier gezeigt wurde, weil ich mich daran erinnerte, was sich damals abgespielt hatte.“ Die nachgespielte filmische Rekonstruktion erschien wirklicher als die eigene Erinnerung, sagte Sajewska. Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

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