Landeshauptstadt: Wo liegt Bergen-Belsen?
Hannah Pick-Goslar erzählt Schülern von ihrer Freundin – der Autorin der „Tagebücher der Anne Frank“
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Hannah Pick-Goslar erzählt Schülern von ihrer Freundin – der Autorin der „Tagebücher der Anne Frank“ Von Guido Berg Margot, Annes drei Jahre ältere Schwester, war sehr gehorsam. „Aber Anne und ich waren anders.“ Knack, knack – und schon hatte Anne ihre Schulter ausgekugelt, einfach so zum Spaß. Das konnte nur sie. „Anne war ein kluges, vorlautes, wie sagt man in deutsch, zickiges Mädchen.“ Wenn Hannah zu Hause erzählte, was Anne wieder gesagt hatte, sagte ihrer Mutter: „Gott weiß alles, aber Anne weiß alles besser.“ Sie haben gemacht, was alle Kinder machen – Verstecken, Seilspringen, Murmeln. Im Büro von Herrn Frank, „wo jetzt das berühmte Museum drin ist“, haben die beiden Mädchen „Wasser genommen und von oben auf die Leute geschüttet“. Lustige Streiche unbeschwerter Kinder. Herr Frank hat immer Bier getrunken am Abend. Beide warteten mit diebischer Freude darauf, dass es beim Eingießen überläuft. Leider geschah dies nicht ein einziges Mal, „dass hab ich ihm nie verziehen“. Hannah Pick-Goslar macht einen Scherz. Sie ist heute eine „Großmutter mit elf Enkel und eineinhalb Urenkel“. Ihre Freundin Anne Frank aber starb mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Entkräftung. Es ist die berühmte Anne Frank, die Autorin der Tagebücher aus dem Amsterdamer Versteck, über deren gemeinsame Zeit die aus Israel angereiste alte Dame gestern den Schülern in der Turnhalle der Lenné-Gesamtschule berichtet. Sie weiß, dass sie als Zeugin des Holocausts vor Schülern steht. Sechs Millionen Juden wurden umgebracht, „das kann man sich nicht vorstellen“. Sie habe sich sagen lassen, dass in Berlin und Brandenburg ungefähr sechs Millionen Menschen leben. Es falle leichter, sich mit dem Schicksal einer Person zu identifizieren. Der Vater von Hannah Pick-Goslar war Pressechef im Preußischen Staatsministerium. Nach Hitlers Machtantritt 1933 muss die Regierung zurücktreten. Die Goslars sind deutsche Juden seit 400 Jahren, der Vater kämpfte im I.Weltkrieg, war Träger des Eisernen Kreuzes. Doch im Nationalsozialismus zählen für Juden deutsche Verdienste nicht, Goslars wandern aus, zuerst nach England, dann nach Holland. Am 1. September 1939 beginnt der II.Weltkrieg, am 1. Mai 1940 fällt die Wehrmacht in Holland ein, das nach fünf Tagen besiegt ist. Die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz, der Plan der Nazi-Führung, die europäischen Juden zu vernichten, wird auch für die Juden in Holland zur lebensbedrohlichen Gefahr. Doch sie wissen es nicht. Sie müssen bald ab sechs Jahren den gelben Stern tragen und am Schwimmbad steht „Juden und Hunde unerwünscht“. „Doch nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ So ist die Stimmung. Hannah Pick-Goslar: „Niemandem kam in den Sinn, dass ein Kulturvolk wie das deutsche, dass Beethoven, Goethe und Schiller hervor brachte, ein ganzes Volk töten will.“ Sie sagten, ihr kommt in ein Arbeitslager im Osten. Sie haben nicht gesagt, wir vergasen euch in Auschwitz. Es ist im Juni 1942, Ende der 7. Klasse, „Anne und ich mussten eine Matheprüfung wiederholen“ Da erfährt sie, dass Annes Familie in die Schweiz geflohen sei. Es ist ein absichtlich verbreitetes Gerücht, tatsächlich versteckt sich die Familie über zwei Jahre in einem Hinterhaus. In dieser Zeit schreibt Hannahs Freundin die „Tagebücher der Anne Frank“. Im Februar 1945 sprechen sich die Freundinnen noch einmal kurz, getrennt durch einen Sperrzaun, im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Wo liegt Bergen-Belsen? Keiner von den Lenné-Schülern weiß es. „Wir haben da zwei Jahre gelitten und ihr wisst nicht wo das ist“, entfährt es der Holocaust-Überlebenden. Die Familie Frank ist verraten worden. „Ich hab niemanden mehr“, sagt Anne ihrer Hannah durch den Stacheldraht. Ihre Freundin wirft ein Paket mit Knäckebrot, Strümpfe und einem Fußball darin über den Zaun. Doch eine andere Hungrige greift schneller zu. „Ich hab das nochmal gemacht und da hat sie das Paket aufgefangen, hundertprozentig“. Was Anne nicht weiß, ihr Vater wird bereits im Januar in Auschwitz von der Roten Armee befreit und überlebt. Hannah Pick-Goslar: „Hätte sie gewusst, dass sie nicht die letzte ihrer Familie ist, hätte sie vielleicht durchgehalten.“ Sie habe aber im Februar leider nicht ahnen können, dass sie im April von den Amerikanern befreit sein würde.
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