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Landeshauptstadt: „Wo seid ihr stark?“

Was arbeitslose Akademiker Lehrern voraus haben: Praxis. Ein Potsdamer Pilotprojekt stellt sich vor

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Sie sind alle gut. Und sie sind arbeitslos. Thomas Lohwasser ist Diplom-Geograf. Er hat nach dem Studium noch nichts gefunden und deshalb keine Praxiserfahrung. Aber er ist theoretisch stark. Ulrich Sende spielte bis vor drei Jahren Gitarre bei „Keimzeit“. Dass es für ihn so etwas wie Arbeitslosigkeit geben könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Nach der Trennung von der Band schlug er Angebote zuerst „im Sinne meines vermeintlich guten Geschmackes“ noch aus. Ralf Sekund ist gelernter Werbefachmann und Grafikdesigner. Zu den Dreien gehören noch ein weiterer Musiker, ein Informatiker, ein Jurist und ein Diplom-Ingenieur, die ebenfalls ohne Arbeit sind. Zusammen bilden sie eine Gruppe arbeitsloser Akademiker, die mit Mehraufwandsentschädigung seit Anfang Januar den Lehrern der Lenné-Gesamtschule mit ihrem Sachverstand zur Seite stehen und eigene Projekte initiieren und begleiten.

„Nach meiner Erkenntnis ist das Vorhaben einmalig, auch über Berlin und Brandenburg hinaus“, schätzt Schulleiter Ingo Müller ein. Gestern stellten er sowie Wolfram und Annina Quitter vom Potsdamer Institut für Managementberatung GmbH (IFM) das Pilotprojekt vor, dass Akademikern ohne Arbeit die Möglichkeit gibt, ihr Fachwissen an Schüler weiter zu geben. Wie Wolfram Quitter erklärte, sind weitere Arbeitslose mit Diplom oder Magister in der Goethe-, der Montessori-, und der Käthe-Kollwitz-Schule sowie je einer am Schiller-Gymnasium und an der Oberlin-Schule dabei, Schülern bei der Berufsfindung zu helfen oder in Arbeitsgruppen Tipps aus der Praxis zu geben.

Freilich hätte Schulleiter Müller nicht jeden genommen. Die Interessenten müssen von dem Projekt überzeugt sein, in ihrem Fach hochqualifiziert sein und natürlich auch „das nötige Fingerspitzengefühl besitzen, um ihre Profession in den Unterricht mit einzubringen“, sagt Ingo Müller. Es sei für die Schüler toll, Leute aus der Praxis „vor der Nase zu haben“, Lehrer hätten ja nicht den Praxisbezug.

Nach den ersten Wochen kann Müller bereits echten „Mehrwert“ für die Schule verzeichnet. So hatten die Lehrer in einigen Räumen immer das Gefühl, die Akustik stimme darin nicht. Man schreie schon fast und dennoch sei auf den hinteren Plätzen kaum was zu hören. Der Bauingenieur nahm sich des Problems an, zog einen Akustiker zu Rate, der feststellte, dass der Nachhall zehn bis fünfzehn Mal stärker ist als normal. Nun tüftelt der Ingenieur mit den Schülern an der Lösung des Problems. Ingo Müller hält es für möglich, dass auch andere Schulen mit Nachhall in den Räumen davon profitieren könnten, „man muss das Fahrrad nicht zweimal erfinden“.

Der Erfolg hat ein Rezept: Ingo Müller hatte den sieben neuen Kollegen auf Zeit an seiner Schule nicht vorgeschrieben, was für Projekte es werden sollen. Er hatte vielmehr gefragt: „Wo seid ihr stark?“ Das Schulleben sei so vielfältig, dass es immer passt, versichert er. Designer Ralf Sekund kam auf diese Weise gleich zu mehreren Projekten. Unter anderem entwickelt er mit den Schülern ein neues Schulmaskottchen. Zudem wird er ein Schulhofelement in Form eines Segels gestalten. Ulrich Sende wird nicht auf dem Keimzeit-Gitarristen reduziert, so Müller. Er macht ein Videoprojekt und perfektioniert sich dabei selbst im Beherrschen modernster Schnitttechnik.

50 Eignungsgespräche hat IFM-Chef Quitter geführt, um die geeigneten Akademiker zu finden. Viele, sagt er, waren resigniert, niedergedrückt und hätten sich eigentlich mit ihrer Situation abgefunden. Quitter: „Arbeitslosigkeit ist wie eine Krankheit, die Körper und Geist niederdrückt.“ Und so wird deutlich, dass nicht nur die Schüler profitieren. „Jetzt ist ein Ziel da, das ist es, was zählt“, sagt Geograf Lohwasser.

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