Landeshauptstadt: Wolllieferungen aus Indien und Russland
Der Gestalter Peter Rogge hat für einen Kalender historische Potsdam-Aufnahmen ausfindig gemacht
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Heute steht das Haus leer, eine Ruine unweit der Nuthe im Niemandsland zwischen Babelsberg und Zentrum Ost. Ältere Potsdamer kennen es noch als sogenanntes WTB-Lager. Die Abkürzung stand zur DDR-Zeit für „Waren des täglichen Bedarfs“. Und in dem Backsteinbau an der Friedrich-List-Straße lagerten Kosmetika, mit denen die gesamte Region beliefert wurde, wie der Potsdamer Stadthistoriker Thoas Töpfer berichtet.
Von der noch wichtigeren Vorgeschichte des Industriegebäudes zeugt ein historisches Foto, das der Potsdamer Gestalter Peter Rogge in der Fotografischen Sammlung des Potsdam Museums aufgetrieben hat: „Deutsche Jute-Spinnerei u. Weberei“ ist darauf an der Fassade des Hauses zu lesen. Der Blick von der Babelsberger Straße auf den Industriekomplex an der Nuthe wurde um 1890 von einem unbekannten Fotografen aufgenommen. Es ist eines von zwölf bislang kaum bekannten Bildern, die Rogge für den Kalender „Unterwegs in Babelsberg und Potsdam“ in den Archiven verschiedener Potsdamer und Babelsberger Institutionen ausgegraben hat.
Die Jutefabrik, eine Filiale der Zentrale im sächsischen Meißen, erstreckte sich seinerzeit über eine Fläche von 11 000 Quadratmetern – etwa zwei Fußballfelder – und beschäftigte mehr als 300 Mitarbeiter, sagt der Stadthistoriker Töpfer. Die Wolle sei aus Amerika, Russland und Indien über den Hamburger Hafen, die Elbe und schließlich Havel und Nuthe auf dem Wasserweg geliefert worden.
Genauer gesagt handelte es sich sogar um ein Industriegelände mit drei Textil-Großbetrieben: Eine zweite sogenannte Wollkammgarnspinnerei – ein Ableger der „Norddeutschen Wolle“ aus Delmenhorst – soll sogar mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigt haben. Dass die Unternehmen sich ausgerechnet für das kleine Nowawes bei Potsdam entschieden, hängt mit der Geschichte als Weberstadt zusammen, vermutet Thoas Töpfer: „Hier gab es die Fachkräfte.“
Auf der anderen Straßenseite befand sich die Teppichfabrik Hozak, die Riesenteppiche mit einer selbst für heutige Verhältnisse extremen Breite von bis zu zwölf Metern herstellte. Einer der Teppiche ist heute im Schloss Cecilienhof zu besichtigen: Er liegt im Konferenzraum, in dem die Regierungschefs der Siegermächte im August 1945 zusammenkamen und das „Potsdamer Abkommen“ aushandelten. Erst unlängst wurde er von der Schlösserstiftung saniert.
Geschichten wie diese verbergen sich hinter jeder der zwölf historischen Ansichten für den Kalender: Da gibt es die 1906 stolz posierenden und allesamt mit zeittypischem Schnauzer ausgestatteten Mannen der Freiwilligen Feuerwehr Neuendorf – einem Teil des heutigen Babelsbergs. Ein Bild von der Oberlinkirche vom Tag der Einweihung am 12. Januar 1905, als auch die Oberlin-Förderin Kaiserin Auguste Viktoria vor Ort war oder ein Blick auf das Gelände des heutigen Astrophysikalischen Instituts in Babelsberg, nach deren im Keller unter einer Glasglocke aufbewahrten supergenauen Uhren seinerzeit die Bahnhofsuhren der Reichsbahn gestellt wurden. Oder eine Aufnahme des ersten Taubstummblindenheims des Oberlinhauses aus dem Eröffnungsjahr 1906 – es war die deutschlandweit erste derartige Einrichtung. Eine Karte verortet die Bilder im heutigen Potsdamer Stadtplan.
Für Gestalter Peter Rogge ist es bereits der vierte Kalender mit historischen Potsdam-Aufnahmen. Wie schon in den Vorjahren, als er dafür den Fundus des Potsdamer Fotografen Wilhelm Andauer nutzte, komplettiert er die großformativen Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit vergrößerten Ausschnitten und lenkt so den Blick aufs Detail. Über die Arbeit freut sich auch Angelika Schulz, die Leiterin des Potsdamer Stadtarchivs, das zwei Fotos beisteuerte: „Wir sind dankbar, wenn unsere Benutzer solche Projekte haben.“ Denn das Archiv profitiere von den Erkenntnissen zur Datierung oder den Motiven. Der Kalender erscheint in einer Auflage von 1200 und kostet 17,80 Euro. Erhältlich ist er demnächst auch PNN-Shop im Karstadt in der Brandenburger Straße.
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