Landeshauptstadt: Wurst ohne Fett und Fleisch
Ein „Frühstück 1945“ ergänzte Erinnerungen an die Russen in Sanssouci
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Ein „Frühstück 1945“ ergänzte Erinnerungen an die Russen in Sanssouci Am 28. April 1945, es war ihr 65. Geburtstag, fand Eleonore von Heeringen, aus dem Luftschutzkeller kommend, in ihrer Wohnung ungebetene Gäste vor. An die 30 russische Soldaten verzehrten ihre Vorräte und lümmelten sich auf den Betten. Besonders angetan hatten es ihnen die Pudel der Hundezüchterin, mit denen sie tanzten und umhertollten. Auf diese Weise hat die Beamtenwitwe, die im westlichen der beiden Gärtnerhäuser am Fuße der Sanssouci-Terrassen wohnte, die sowjetischen Sieger vielfach erlebt. Immer wieder donnerten nachts betrunkene Trupps mit den Fäusten vor ihre Wohnungstür und traten sie ein, wenn nicht geöffnet wurde. Immer wieder gerieten sie aber auch über die Pudel in Entzücken, so dass die 65-Jährige Vergewaltigungen entging. Das war durchaus ungewöhnlich - ihre gleichaltrige Nachbarin hatte nicht dieses Glück. Eleonore von Heeringen hat ihre Erlebnisse tagebuchartig für ihre Tochter Eva niedergeschrieben, zu der sie bei Kriegsende den Kontakt verloren hatte. Diese Briefe sind jetzt von dem Bremer Historiker Dr. Gerhard Knoll unter dem Titel „Die Russen in Sanssouci“ als Broschüre herausgegeben worden. Daraus las gestern Dorothee Nolte in einer Veranstaltung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten am Internationalen Museumstag und zum Kriegsende vor 60 Jahren. In einem Nebenraum der Bildergalerie wartete auf das überraschte Publikum eine lange Tafel, an die zu einem „Frühstück 1945“ eingeladen wurde. All die leiblichen Genüsse waren von der Dahlemer Agentur „Esskultur“ ohne ein Gramm Fett oder Fleisch, die es ja am Kriegsende kaum gab, auf den Tisch gezaubert worden. Für die Leberwurst hatte Agenturchefin Birgitt Claus Zwiebeln angeröstet, dann frische Hefe zugefügt und gehen lassen, die Masse mit Haferflocken versetzt und mit Majoran gewürzt. Besonders der jüngere Teil des Publikums, der diese Ersatznahrung nicht mehr kennen gelernt hat, also auch nicht über Monate oder Jahre mit ihr vorlieb nehmen musste, stürzte sich auf Muckefuck, Tannenadelspitzentee, Hagebuttenmarmelade mit Graupen, Holunder-Möhren-Marmelade, Rübensirup, vegetarische Zwiebelmettwurst, Brotaufstrich aus Löwenzahn, Brennessel und Sauerampfer wie auf französische Delikatessen. Auch das Roggenbrot mit Kartoffelzusatz schmeckte vorzüglich. In Eleonore von Heeringens Tagebuch füllt der tägliche Kampf um ausreichende Nahrung ganze Seiten. Preußische Erziehung und Adelsstolz verboten ihr, gleich den Nachbarn Lebensmittel zu „organisieren“, also zu plündern oder zu stehlen. Auch sie weckte Obst ein und bereitete aus Wildgewächsen allerlei Ersatznahrung. Die hoch interessante Reihe „Zwischen Krieg und Frieden“ möchte die Stiftung fortführen. Dazu sucht sie weitere Zeitzeugen. Sie können sich bei Wilma Otte, Abteilung Marketing, unter Telefon 9694-194 melden. E. Hohenstein
E. Hohenstein
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