Von Richard Rabensaat: Zeitenwende
Auf einem internationalen Symposium am ZZF wurde über die Folgen von Tschernobyl diskutiert
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Am 25. April 1986 kollabierte der Reaktor des ukrainischen Kernkraftwerkes Tschernobyl. 25 Jahre später hat ein international besetztes, zweitägiges Symposium am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) untersucht, ob und was für einen Einschnitt die bislang größte, ungeplante, nukleare Katastrophe für den Gang der Geschichte bedeutet hat. Die Historikerin Melanie Arndt und der Direktor des ZZF Martin Sabrow ordneten in der vergangenen Woche den Geschehnissen eine zeitgeschichtliche Perspektive zu. Der Staatssekretär aus dem brandenburgischen Wissenschaftsministerium Martin Gorholt (SPD) ergänzte eine fachliche sowie persönliche Betrachtung des historischen Ereignisses.
Als die Leistung des Reaktors vor 25 Jahren zu Probezwecken heruntergefahren wird, gerät der Abschaltvorgang außer Kontrolle. Das Grafit im Reaktor beginnt zu brennen und reagiert mit den Brennstäben des Reaktors. Eine Gasexplosion sprengt den mehr als 1000 Tonnen schweren Deckel des Reaktors fort, sodass radioaktives Material ungehindert an die freie Luft gelangen kann. Die Menschen im nahe gelegenen Ort Prypjat bekommen von der Katastrophe zunächst wenig mit und die Regierung unternimmt nichts, um das Ausmaß der Bedrohung durch die ausgetretene Radioaktivität deutlich zu machen. Prypjat, eine Stadt, die einst 80 000 Einwohner hatte, ist heute eine Geisterstadt. Auch Jahrzehnte später ist nicht klar, wie viele Opfer es gegeben hat. Bekannt gegebene Zahlen schwanken zwischen 40 und 200 000 betroffenen Personen. Der Präsident des ukrainischen Tschernobyl-Veteranenverbandes spricht von 360 000 Menschen, die er einst vertreten habe, gegenwärtig seien es 220 000.
Freigesetzte Radioaktivität tötet meist langsam. Zellen mutieren, entwickeln Krebs, zerstören den Leib in einer Kettenreaktion, die sich stetig ausweitet. Sicher ist mittlerweile, dass die Mängel des Kernkraftwerkes Tschernobyl bereits vor dem Unfall bekannt waren. Schon im Jahre 1982 hatte sich ein gleichartiger Unfall im Kraftwerk ereignet, ohne dass es jedoch zur finalen Schmelze kam. In einem erst jüngst bekannt gewordenen Bericht fragt der damalige Staatschef Michail Gorbatschow, was das denn für Dummköpfe gewesen seien, die nicht mit den dann eingetretenen Folgen des Feuers gerechnet hätten.
Dass sich die Unwissenheit nicht nur auf die Techniker des Kraftwerkes beschränkte, macht Gorholt deutlich. Er beschrieb auf dem Symposium, wie sich die Informationen über das Unglück in Ost und West 1986 zu einem eher unklaren Nachrichtengebräu vermischt hätten. „Um die damalige DDR wird die radioaktive Wolke einen Bogen machen, das war das Bild, das verbreitet wurde“, erinnerte sich Gorholt. Der Staatssekretär sprach auch von der Tradition in der DDR, zum Jahrestag von Hiroshima Papiertauben zu falten: „Das hat ein Bewusstsein für die Gefahren der Atomkraft geschaffen“. Weil niemand genau gewusst hätte, wie sich die Strahlung auswirkt, seien von der Politik teils widersprüchliche Anweisungen und Ratschläge verbreitet worden. Es seien zwar weiter weltweit Atomkraftwerke gebaut worden. Dennoch hätte der Unfall von Tschernobyl dazu geführt, dass die Atomindustrie einige Produktionslinien beendet hätte, die sich politisch nicht mehr durchsetzen ließen.
ZZF-Chef Martin Sabrow konstatierte, dass historische Zäsuren erst rückblickend als solche zu erkennen sind. Die Deutung der Geschichte sei von Narrationen abhängig, deren Richtigkeit sich aber erst erweisen müsse. Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei es, dies zu reflektieren. Immer wieder sei die Menschheit mit schwerwiegenden Ereignissen konfrontiert worden. Die hätten aber selten so nachhaltige Einschnitte bedeutet wie Tschernobyl. Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 habe zu einer breit geführten philosophischen Diskussion über den Zusammenhang von göttlicher Vorsehung und der Unausweichlichkeit von Naturkatastrophen geführt. Andere Ereignisse wie der Tsunami vom 26. Dezember 2004 oder der Hurrikan Katrina hätten zwar viel Leid und viele Tote verursacht, ließen den Gang der Geschichte aber weitgehend unberührt.
Nach Tschernobyl habe die Industriegesellschaft angefangen, nach den Kosten des Fortschritts zu fragen. „Das Wohl des Einzelnen wird nicht mehr bedingungslos dem Gesamtwohl untergeordnet“, bemerkte Sabrow. In diese Richtung würde vermutlich auch die neuerlich Atomkatastrophe von Fukushima wirken. Anders als bei Tschernobyl seien die Bilder der gegenwärtigen Katastrophe praktisch unmittelbar überall präsent, was deren Wirkung noch verstärke.
Melanie Arndt schilderte im Detail, wie sich die Reaktionen im Westen und im Osten unterschieden. Während in der BRD die Grünen den sofortigen Ausstieg aus der Atomindustrie gefordert hätten, seien in der DDR nicht einmal alle Lebensmittel aus dem Verkehr gezogen worden, die Richtwerte für Strahlenbelastung überschritten. Dennoch seien Tschernobyl und die Gefahren der Atomkraft ein ständiges Thema in der DDR geblieben.
Richard Rabensaat
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