Landeshauptstadt: Zwei Jahre für „Scheiß-FDJ“
Bewegende Ausstellung in den Bahnhofspassagen/Einrichtungen der Stasi überzogen Potsdam wie ein Spinnennetz
Stand:
Bewegende Ausstellung in den Bahnhofspassagen/Einrichtungen der Stasi überzogen Potsdam wie ein Spinnennetz Von Erhart Hohenstein „Kein Wunder, dass in der DDR Wohnraum so knapp war“, knurrt ein Mann. Er steht vor einem großen Stadtplan, in den die konspirativen Wohnungen der Staatssicherheit eingezeichnet sind. Allein für seinen Wohnblock längs der Zeppelinstraße findet er 13 solcher Treffpunkte, dazu einen 14. der Abteilung K 1 der Kriminalpolizei. Der Plan nennt für das Potsdamer Stadtgebiet insgesamt die unfassbare Zahl von 1160 (!) derartiger Begegnungsorte zwischen Stasi-Offizieren und ihren inoffiziellen Mitarbeitern (IM), außerdem 57 der Kripo und 28 Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Diese Darstellung ist einer der Glanzpunkte der Ausstellung „Mit tschekistischem Gruß“, die gestern in den Bahnhofspassagen eröffnet wurde. Darin informiert die Potsdamer Außenstelle der Birthler-Behörde (BStU) über die Überwachungspraxis der Stasi, die wie ein Spinnennetz das Stadtgebiet überzog und fast in jede Familie eindrang. In einem zusätzlich zu dem langen Flur vom Centermanagement der Bahnhofspassagen zur Verfügung gestellten Ladenraum wird sie am Beispiel des ZFIM „Martin“ dargestellt, der mit seiner Familie in der Gontardstraße wohnte. Übersetzt heißt das, „Martin“ war ein „zentraler Führungs-IM“ und hatte mehr als 30 Spitzel in verschiedenen Betrieben anzuleiten. Offiziell Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Einrichtung in Berlin, erhielt er einen Personalausweis auf den Falschnamen Alfons Eberhardt und auf dem Hof der Hermann-Elflein-Straße 2 eine konspirative Wohnung, in der er auch seine Berichte schrieb. Ob oder wie viele Potsdamer seine Arbeit hinter Gitter brachte, konnte nicht ermittelt werden – in der Ausstellung sind Säcke mit Unterlagen zu betrachten, die von der Stasi kurz vor Toresschluss durch Häcksler und Reißwolf gejagt wurden. Erfreulich zu sehen sind die Beispiele, in denen sich Potsdamer durch Tricks, aber manchmal auch durch ein klares Nein Anwerbungsversuchen als IM entzogen. Sie seien aufgrund ihrer politischen und charakterlichen Unzuverlässigkeit für diese ehrenvolle Tätigkeit ungeeignet, schrieb der Offizier dann auf den Aktenrand. Die schlimmen Folgen der Überwachungstätigkeit der Stasi für viele Potsdamer kommen in der Exposition zu kurz. Das enttäuschte einige der Eröffnungsgäste, beispielsweise einen mittlerweile über 60-Jährigen, der 1961 nach der Denunziation durch einen IM hinter Gitter kam. „Zwei Jahre für ein Wort“, erinnerte er sich gegenüber PNN. „Ich hatte die Jugendorganisation der DDR Scheiß-FDJ genannt.“ Die Überwachungspraxis der Stasi wird dagegen ausführlich dargestellt. Endlich kann der Besucher betrachten, wie die „Wanzen“ aussahen und wie vielgestaltig sie waren, über die vielleicht auch sein Arbeitsplatz oder seine Wohnung abgehört wurden. Viele Exponate hat die Potsdamer BStU-Angestellte Waldtraud Börner der Asservatenkammer der Behörde entnommen, die Glanzstücke steuerte jedoch das vom Bürgerkomitee Leipzig e.V. geführte Museum in der „runden Ecke“ – einem ehemaligen Untersuchungsgefängnis – bei: den „roten Koffer“ aus dem Panzerschrank Erich Mielkes, in dem der Stasi-Chef Unterlagen über SED-Generalsekretär Honecker einschloss, einen Strahler zum Durchleuchten von Briefen und auch jene Sonden, mit denen die Westpakete angebohrt wurden und die mit penetranter Regelmäßigkeit ausgerechnet die Bananen trafen. Sehenswert ist ebenso der „Aufdampftisch“, über dem Briefumschläge geöffnet und wieder verschlossen wurden, was ausgeschlafene Adressaten an den zerlaufenen Kleberändern dann doch merkten. Die Firma „Horch und Guck“, wie sie im Volksmund genannt wurde, hatte solch hohen Bedarf an diesen Tischen, dass sie sie in Serie industriell produzieren ließ. BStU-Außenstellenleiterin Gisela Rüdiger macht auf einen Brief aufmerksam, der auf dem Aufdampfgerät liegt: Er wurde 30 Jahre zurückgehalten und konnte der Potsdamer Adressatin erst nach der Wende mit 30 Jahren Verzögerung zugestellt werden. Zum Lachen ist das nicht: Diese Stasi-Praxis führte dazu, dass sich Ost-West-Verwandte und -Freunde entfremdeten, weil ihre Briefe unbeantwortet blieben. Solche Hinweise sind sehr wichtig für eine Ausstellung, die sonst als Ansammlung von Monströsitäten und Kuriositäten missverstanden werden könnte. Darauf wiesen Gisela Rüdiger und Irmtraud Hollitzer vom Leipziger Bürgerkomitee in ihren Eröffungsansprachen hin. Schweigen, Verschweigen, Rechfertigung sei heute die Taktik der „Tschekisten“, die doch typische Diener und Stützen einer Diktatur mit unmenschlichen Zügen waren. Ein beklemmendes Zeugnis dafür liefert eine in der Stasi-Hochschule Golm aufgefundene Ausstellung zum 25. Jahrestag der Staatssicherheit (1975). Auf den 25 Tafeln feiern die Angehörigen ihre Erfolge im Kampf gegen den inneren „Klassenfeind“ und den westlichen Imperialismus. Welch ein Gegensatz zu all den Apparaten und Gerätschaften, die der miesen Spitzeltätigkeit dienten! Die Potsdamer Fachhochschulgruppe „Freybeuter“ macht als Ausstellungsgestalter diesen Gegensatz in der Anordnung der Exponate deutlich. Die Ausstellung, die durch den Beigeordneten Burkhard Exner stellvertretend für die Schirmherren Matthias Platzeck und Jann Jakobs eröffnet wurde, hat einen beträchtlichen Aufwand erfordert. Um so trauriger ist es, dass ihr nicht mehr als fünf Tage eingeräumt werden. Sie ist bis Freitag täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Am Eröffnungstag machten bereits zahlreiche Potsdamer von der Möglichkeit Gebrauch, an diesem zentralen Punkt der Stadt Anträge auf Einsicht in ihre Stasi-Akten zu stellen. Mancher hatte bisher den Weg hinaus zur BStU-Stelle am Ende der Großbeerenstraße gescheut. Wer seine Akten schon vor Jahren gelesen hat, kann einen Wiederholungsantrag einreichen, um sich über eventuelle neue Erkenntnisse zu informieren. Schließlich beraten die BStU-Mitarbeiterinnen auch über die Schritte, die in der DDR politisch Verfolgte für ihre Rehabilitierung und Entschädigung einleiten müssen.
Erhart Hohenstein
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: