"Stadt für eine Nacht" in Potsdam: 24 Stunden Kunst: Das Ich auflösen
Von Samstag bis Sonntag gab es Theater, Musik und Kunst in Potsdam. "Stadt für eine Nacht" rückte in seinem siebten Jahr noch näher an seine eigene Idee heran.
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Potsdam - Die Stadt ist am schönsten dort, wo sie ortlos ist. Genau genommen hat sie zwar schon einen Ort – die Schiffbauergasse. Dort, wo die „Stadt für eine Nacht“, Potsdams großes Kultursommerfest und vermutlich auch das wichtigste von allen Festivals, stattfindet. Sorry, Tanztage, sorry, Orgelsommer, sorry Unidram. Die „Stadt für eine Nacht“, kurz: Sfen genannt, hat vielleicht nicht eure Reichweite, eure künstlerische Tiefe oder Internationalität – aber es bringt einfach alle zusammen, die hier leben.
Und das in diesem Jahr vor allem im Klang, in einer Dimension, die keinen geografischen Ort hat. Die Schiffbauergasse ist nur die Tür, durch die man Raum und Zeit verlässt. Um zu hören. Aufeinander, miteinander, oder – wie bei der Silent Disco, bei der jeder via Kopfhörer, zu seiner eigenen Musik tanzt, auf sich selbst. Ruhe haben vom Getöse der Anderen und doch: mittendrin sein. Drumherum: Noch mehr Sound. Live gebastelte Beats, die den Schritt schon im Vorbeigehen schwerer machen und einen, wenn man sich in einem der Liegestühle versinkt, sofort in eine andere Welt schleudern. Eine bessere, eine, die nur aus Bässen besteht.
Man sieht keine Werbebanner
Die aber auch einsam sein kann. Wer hingegen Bass mit Menschen sucht, findet den beim Drum Klub im Waschhaus. Dort kann man sein Ego schön atomisieren. Wenn sich beim Drum Klub Hunderte gemeinsam dem Rhythmus hingeben, entsteht ein mythischer Ritus. Einer, bei dem man den eigenen Körper, der in der Enge schwitzt, vergisst, die Kleinheit des eigenen Herzens vergisst, sich auflöst im alle verbindenden Klang.
Genau darum geht es im Prinzip den Machern von Sfen – Tobias Wellemeyer, Intendant des Hans Otto Theaters, Sven Till von der Fabrik, Sigfried Dittler vom Waschhaus und Birgit Katharine Seemann vom Fachbereich Kultur der Stadt seit sieben Jahren. Alle zusammenbringen – 30 000 Besucher waren es im vergangenen Jahr, diesmal vielleicht sogar mehr –, nicht um nur zu konsumieren, sich berieseln zu lassen, sondern, um sich ehrlich zu begegnen. Alle, das heißt alte und neue Potsdamer, reiche und arme, kulturaffine und solche, die sich nicht so bezeichnen würden. Das geht nur bei freiem Eintritt. Davon hat sich auch Wellemeyer wieder überzeugen lassen. „Im vergangenen Jahr war ich tatsächlich dafür, doch nicht alles kostenlos anzubieten“, sagt er.
Die anderen aber haben ihn überzeugt und gleichzeitig, sagt er, ist er auch sehr stolz darauf, dass sie es geschafft haben, das Fest über sieben Jahre frei zu halten von jeglicher Kommerzialisierung. Und das, obwohl es eher teurer wird, das Ganze auf die Beine zu stellen, 160 000 Euro waren es in diesem Jahr. Aber: Man sieht keine Werbebanner, die Einnahmen der vielen Gastro-Stände fließen zurück an das Festival, der Kuchen ist selbst gebacken. Einziges Manko: Das Festival dauert bisher nur 24 Stunden. „Im Grunde müssten es sieben Tage sein, in sieben Tagen erst wurde die Welt erschaffen“, sagt Wellemeyer. Ob die Expansion schon im nächsten Jahr kommt?
„Zu viel Zucker kann tödlich sein“
In dem Wunsch versteckt sich jedenfalls schon die Grundhaltung der Festivalmacher, die eng verbunden ist mit der Frage, die sie sich selbst und den Potsdamern jedes Jahr stellen: Wie wollen wir leben? Welche Stadt wollen wir uns selber schaffen? In diesem Jahr, sagt Birgit Katharine Seemann, haben sie diese Frage noch vehementer gestellt. „Wir können nicht einfach so tun, als wäre nichts los in der Welt“. Sie meint die Flüchtlinge, die nach Europa, die nach Potsdam kommen und die nicht einfach nur untergebracht werden können. Sondern die Teil des Lebens hier werden müssen, damit das Leben gut sein kann.
Seemann meint aber auch noch mehr. Unter den Initiativen, die die Stadt für eine Nacht, gebaut aus transparent gezimmerten provisorischen Hütten, bewohnen, ist etwa der Wünsche-Wagen des Arbeiter Samariter Bundes. Der erste seiner Art in Brandenburg. Auch zum guten Leben gehört das Sterben. Der Wünsche-Wagen will letzte Sehnsüchte erfüllen. Die meisten wollen nochmal ans Meer. Oder auf den Campingplatz, an dem 40 Jahre lang ihr Wohnwagen stand. Die Idee für das Ehrenamt-Projekt kommt aus Israel, Brandenburg hat das fünfte Fahrzeug innerhalb Deutschlands angeschafft.
Ums Sterben wird es übrigens in der kommenden Saison auch im Hans Otto Theater gehen. Dort startet im Herbst eine neue Reihe: „Stadt der Zukunft“, die sich nacheinander mit Aspekten des guten Lebens beschäftigen will: Wohnen, Altern, Geburt, Liebe, Verstecken, Sterben. Die Reihe kann fortgesetzt werden. Wie auch bei Sfen sollen Lust und Wissen, Theorie, Debatte und Kunst dabei verschwimmen, ineinanderfließen.
Wie am Stand des FH-Professors Marian Dörk, der zu urbaner Zukunft forscht. Auf einer Karte von Potsdam können Besucher hier gelbe, rote und grüne Punkte verteilen – je nachdem, wie wohl sie sich in einem Stadtteil fühlen. Wer die Schiffbauergasse mit lauter grünen Punkten übersät hat, verrät er allerdings nicht. Worauf es ankommt, kann hier heute auch via Postkarte vermittelt werden. „Zu viel Zucker kann tödlich sein“, hat jemand auf eine geschrieben, und es ist klar, dass es hier eher um architektonischen als essbaren Overkill geht.
Das roh Zusammengezimmerte, das Provisorische muss man bei dem Fest auch einfach lieben lernen. Vor allem wenn Klänge es immer wieder verwandeln. Einen fast heiligen Zauber legte die Musik beim Maskentheater „Dante Reloaded“ über den sonst so tristen Schirrhof. Zum peinigenden Dirigenten wurde der Sound hingegen bei Howool Baeks Tanz-Stück „Did you hear?“. Eine Meditation über das Eingeengtsein. Eine große Befreiung hingegen war da zum Glück Tomer Zirkilevichs Stück „like Father, like Son“ – eine getanzte Liebe zwischen Vater und Sohn und gleichzeitig auch eine Art Schöpfungsgeschichte. Jenseits von Raum und Zeit, getragen nur von der Musik.
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