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Kultur: 2860 Kilometer Europa

Der Potsdamer Fotograf Frank Gaudlitz hat entlang der Donau Menschen porträtiert

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Die Bilder sprechen für sich. Der Fotograf Frank Gaudlitz nennt nicht den Beruf oder die Lebensumstände der über 70 Personen, die er entlang des 2860 Kilometer langen Flusslaufes der Donau porträtiert hat. Er nennt noch nicht einmal die Länder. Nur die Stadt, den Namen, das Alter vermerkt er neben den Porträts. Doch wer weiß schon, wo Nesvady, Oryakhovo, Fadd, Sadova oder Silistra liegen? Bei Schießdorf, Dillingen und Dürnstein glaubt man sich immerhin irgendwo zwischen Bayern und Österreich.

Das Mädchen ins Nesvady ist 17. Sie steht auf der Straße im knallroten Rollkragenpulli, der Baumwollrock hängt bis zum Boden, über die herabhängenden Schultern eine verkrumpelte Jacke. In der Hand hält sie eine große Tasche, auch sie hängt fast bis zum Boden. Alles hängt, alles spricht von Hoffnungslosigkeit. Auch der Hintergrund, die Betonmauer, der nasse Asphalt, die tristen Laternenpfähle. Das Mädchen versucht zu lächeln. Aber sie versucht es nur. Man kann nur erahnen, dass sie zur Volksgruppe der Sinti und Roma gehört. Wir wissen es nicht, wissen auch nicht, was sie macht, wohin sie unterwegs ist. Wartet sie auf Europa? Schon möglich. Vielleicht aber auch nur auf den ewig verspäteten Bus.

„Warten auf Europa" hat der Potsdamer Fotograf den Bildband genannt, der unlängst zur Leipziger Buchmesse im Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa erschienen ist. Die Rückschlüsse aus den Bildern muss der Betrachter selbst ziehen. Gaudlitz hat zwar mit vielen der Menschen, die er fast ausnahmslos draußen, auf Straßen, Wegen, Äckern und Höfen fotografiert hat, gesprochen. Er hat ihre Erwartungen an das näher kommende Europa teilweise auch aufgeschrieben. Doch er hat diese Kommentare nicht den Bildern zugeordnet. Was die Betrachtung noch schärft. Alles will man aus der Körperhaltung, dem Gesichtsausdruck, den Kleidern und der Umgebung erfahren.

Etwa der Skinhead mit angedeutetem Tartarenbart, Tarnhose, Springerstiefeln und schwarzer Bomberjacke, der im ungarischen Fadd breitbeinig unter Betonpfeilern steht. Sein Blick ist zuversichtlich, energisch. Doch ist er rechts, links, unpolitisch, ein Kämpfer einer Minderheit? Es bleibt offen, ebenso offen wie die Tätigkeit der Frau, die im kroatischen Vinkovci in Minikleid, mit Netzstrümpfen, Tattoo und Silbermedaillon in einer Bar steht. Neben ihr ein kleiner Geldspielautomat. Ist sie die Bardame, ein Gast oder geht sie einem anrüchigen Gewerbe nach? Wir sind mit unseren Gedanken alleine, beginnen zu sammeln, was wir wissen über die vielen Länder an dem langen Fluss, der den alten, nun wieder neuen Südosten Europas durchzieht. Einst zwischen Rom und Byzanz, Osmanischem Reich und Habsburg. Heute bis an die Außengrenzen der EU. Grenzen, die in den kommenden Jahrzehnten verschwinden sollen.

Teils anrührend, teils treffsicher das Schicksal eines ganzen Landstrichs in Fotoformat bannend, hat Frank Gaudlitz seine Porträts arrangiert. Er bleibt im Ländlichen, die Kleidung ist oft abgetragen und geflickt. Die Orte wirken heruntergekommen, sogar Österreich und Bayern scheinen fern jeder Modernisierung, die Mauern sind alt, von etliche Donauhochwassern zermürbt. Das Mädchen auf der Wiese in Schießdorf trägt ein Kleidchen, das auch aus den 30er Jahren stammen könnte. Auch der Kittel der Frau mit Hund in St. Florian ist alles andere als zeitgemäß. Einzig der junge Mann in den Altstadtgassen von Linz scheint aus dem Europa zu kommen, das heute EU genannt wird. Sein Blick ist zuversichtlich, eines der wenigen optimistischen Gesichter in dem Band.

Nicht sehr zuversichtlich klingen auch die Dinge, die Gaudlitz entlang der Donau vom deutschen Furtwandgen bis zum ukrainischen Vilkovo zu hören bekam. „Schon meine Eltern haben mir gesagt, dass es besser wird. Später im Betrieb sagte man: Jetzt wird es besser. Nach dem Krieg sagten die Politiker: Nun endlich wird es besser. Und ich warte immer noch“, sagt Tadija Jaksic (56) aus Kroatien. Milan Stupar (69) aus Serbien wünscht sich, dass alle Länder so grenzenlos wären wie der Lauf der Donau. Die EU-Perspektive wird nicht immer positiv gesehen: „Ich habe Angst, dass wir in der EU nur eine billige Arbeitskraft für Reiche und Mächtige werden“, sagt Vlado Paksec (32) aus Osijek. Es gibt aber auch ganz banale Sorgen. „Wird man noch Schnaps brennen dürfen“, fragt sich etwa der Kroate Josip Krezo (67).

Mit seinen Porträts entwirft Gaudlitz ein Bild, das zwischen zu knappen Dirndln, abgetragenen Bauernkutten, viel zu dünnen Anoraks und von Schlamm verschmutzten Schuhen, zwischen frustrierten und teilnahmslosen, wütenden, aber auch stolzen, selbstsicheren Blicken zu einem Ganzen wird. Ein Bild, das von eher ursprünglichen Gesellschaften erzählt. Eine Welt in zehn Ländern, der man sonst nur als reisender Gast den Reiz vermeintlicher Authentizität andichtet. Gaudlitz macht den Betrachter zum Voyeur der Verhältnisse, er lässt uns spüren, dass auf fast 3000 Kilometern unzählige Menschen auf Europa warten. Und oft liegen die Geschichten auch im Bildhintergrund verborgen. Ein Bildband wie ein Dokumentarfilm.

Warten auf Europa, 19,80 €, ISBN 3-936168-31-8

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