
© Musikfestspiele/S. Gloede
Kultur: Als das Klavier singen lernte
Zehn Konzerte an acht Orten mit über elf Stunden Musik: Der „Claviermarathon“
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Nehmen wir den Titel sportlich. Ganz im Sinne der Intention der Veranstalter, dass es sich hier um eine Langstrecke handelt. Zwar im kulturellen Sinne, aber immerhin ein Marathon. In diesem Fall ein „Claviermarathon“: Zehn Konzerte an acht Orten mit über elf Stunden Musik. Das braucht einen langen Atem. Und eine entsprechende Erwärmung.
Die war um 11 Uhr unter dem Titel „Clavierhören“ in der Blauen Galerie der Neuen Kammern Sanssouci angesetzt. Und wenn einem als Läufer beim Anblick der regensatten Wolkenberge Bedenken hinsichtlich der bevorstehenden Kilometer gekommen wären, den Musikliebhaber begleitete einzig die Sorge, wie er bei den Aussichten trockenen Fußes von einem zum nächsten Veranstaltungsort kommen würde. Es kam dann anders, denn bald schon überkam ihn das ungute Gefühl, ob er es überhaupt rechtzeitig zum nächsten Veranstaltungsort schafft.
Zusammen mit dem Hammerklavierexperten Kristian Bezuidenhout wollte der scheidende Dramaturg der Musikfestspiel, Carsten Hinrichs, beim aufwärmenden „Clavierhören“ eine Einführung in das musikalische Verständnis der Zeit Carl Philipp Emanuel Bachs geben, der 30 Jahre als Musiker am Hofe Friedrich II. diente und für die Weiterentwicklung der Klaviermusik entscheidende Impulse gegeben hat. Doch Hinrichs Vortrag wurde zu ausufernd, zu detailliert. Wie Carl Philipp Emanuel Bach in seiner wegweisenden Abhandlung „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ kritisierte, waren es auch bei Hinrichs zu viele Verzierungen, die vom Eigentlichen ablenkten. Und so hätte man sich weniger Worte, sondern mehr Musik mit Kristian Bezuidenhout auf der Kopie eines Silbermann-Hammerflügels (1747) aus dem Konzertzimmer des Neuen Palais gewünscht.
Christoph Hammer, der international bekannte Spezialist für historische Tasteninstrumente, gab auf diesem Hammerflügel zwei Konzerte. Zunächst musizierte er mit Werken aus der Familie Bach, später war er Begleiter des Kölner Tenors Hans Jörg Mammel. In Hammers erstem Konzert stand in Friedrich des Großen Gästeschloss der Hofcembalist Carl Philipp Emanuel Bach im Blickpunkt des musikalischen Geschehens. Mit hoher Kunstfertigkeit und Variabilität hat Bach seine Werke komponiert, so dass eines dem anderen kaum ähnelt. Der hochbegabte und geniale Sohn Johann Sebastian Bachs nimmt in der Musikgeschichte aber nur einen zweiten Platz ein: Irgendwo zwischen dem Spätbarock und der frühen Klassik angesiedelt, konnte er weder mit seinem Vater noch mit dem 18 Jahre jüngeren Haydn konkurrieren und eine eigenständige Position einnehmen.
Christoph Hammer nahm sich seiner Musik mit großer Herzlichkeit an. Seine Interpretationen atmeten den freien Geist eines Originalgenies der Empfindsamkeit. In Verbindung mit einem warmem Klang und ohne jegliche Routine gespielt, gelang dem Pianisten etwas nicht zu Unterschätzendes: den Fantasien, Tänzen und Sonaten spielend ein paar Kenner und Liebhaber mehr zu verhelfen.
Das Zeitalter der Empfindsamkeit wurde auch im Konzert mit Hans Jörg Mammel deutlich, den Christoph Hammer feinfühlig und farbenreich auf dem Hammerflügel begleitete. Kostbarkeiten der immer noch unterschätzten beiden Berliner Liederschulen wählten die Künstler für ihr Programm aus: Gesänge von Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Abraham Peter Schulz, Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter. Dabei konnte man bestens die Entwicklung vom schlichten volkstümlichen Strophenlied bis zum auskomponierten Kunstlied, das man getrost als Vorstufe zu den Schubertschen Schöpfungen ansehen darf, verfolgen. Texte fanden die Komponisten bei berühmten Gegenwartsdichtern, bei Gellert, Voß, Bürger und natürlich Goethe. Hans Jörg Mammel sang die Lieder mit ungekünstelter Einfachheit und gab ihnen vor allem sprachlich und gestalterisch farbige Konturen, die ihre Höhepunkte bei Zelters melancholisch getragenen Gesängen wie „Schäfers Klagelied“ und „Um Mitternacht“ (das Lieblingslied Goethes überhaupt) sowie beim furiosen „Totentanz“ fanden.
Im Konzertsaal im Marmorpalais am Neuen Garten entfaltete Frédérick Haas einmal „französisch“ und einmal „auf gut deutsch“ den feinen und herrlich silbrigen Klang des Cembalos. Empfindsamkeit in virtuosen Maßen mit aristokratisch-galantem Gestus. Haas, ein Meister der Nuancen und Manieren, ließ Couperin und Froberger, Marchand und Rameau förmlich erblühen. Filigrane Klanggewächse von berührender Schönheit. Zeitgleich gab im benachbarten Palmensaal Ilya Poletaev sowohl Vater Bach als auch Sohn Carl Philipp Emanuel und Jan Ladislav Dussek auf dem modernen Steinwayflügel, auf der Grünberg-Orgel versprach Adam Viktora „Clavier für die Seele“. Und wie bei einem Marathonlauf musste man sich auch hier entscheiden: Entweder neue Bestzeit, in diesem Falle so viele Konzerte wie nur möglich hören oder Genuss. Die Entscheidung fiel für Letzteres und fast hätte man mit Mathieu Dupouy und „Clavier und Empfindung“ einen weiteren Höhepunkt erleben können. Doch der für das so selten zu hörende und so fein nuancierende Clavichord gewählte „Raum 1760“ in der Benkertstraße erwies sich als Fehlgriff. Zu laut und zu unruhig. Und dann noch zwei zu spät kommende Zuhörer, die trotz der schon begonnenen Sonate von Haydn auf Einlass bestanden.
Versöhnung dann zum Abschluss mit Kristian Bezuidenhout und dem Ensemble Arcangelo. Carl Philipp Emanuel Bach und Beethoven standen auf dem Programm. Beethovens Klavierkonzert in G-Dur, op. 58 in der Kammerbesetzung wie bei der Uraufführung 1807, mit nur einem Instrument pro Stimme. Bezuidenhout zeigte seine Klasse als Meister der Empfindsamkeit und ließ das Hammerklavier singen, wie es einst Carl Philipp Emanuel Bach gefordert hatte. Das Ensemble Arcangelo unter Jonathan Cohen lieferte einen so transparenten, akzentuierten und so mitreißenden Klang. Ob nun beim nuancenreichen Bach oder dem kraftstrotzenden Beethoven, von diesem Ensemble unter ihrem Schwerstarbeiter Cohen ging in jedem Moment Feuergefahr aus. Und man ließ sich gern entflammen. Ein perfekter Zieleinlauf: Erschöpft, aber beglückt.
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