zum Hauptinhalt

Kultur: Am anderen Ufer

Das Potsdamer Kulturforum Osteuropa beleuchtet das Leben in dem deutsch-polnischen Grenzort Aurith/Urad

Wenn die Welt bloß so einfach wäre wie dieses wunderbare Buch. Man dreht es einfach um, und schon hat man die Welten gewechselt. Vom brandenburgischen Dorf Aurith purzelt man über die Oder hinüber ins polnische Urad. So nah kann sich das zusammenwachsende Europa also sein, auch wenn man zwischen Berlin und Warschau derzeit eher von einer Eiszeit spricht.

In dem kürzlich im Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Potsdam erschienen Buch „Aurith/Urad – zwei Dörfer an der Oder“ spielen politische Verstimmungen keine Rolle, die Menschen diesseits und jenseits des Grenzflusses erzählen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und Tina Veihelmann hat die Geschichten der Menschen liebevoll und ohne Pathos jeweils auf Deutsch und Polnisch zu Papier gebracht. Auch dann, wenn die Dinge unglaublich werden, wenn Stereotypen bedient oder Fehler eingestanden werden.

Da wird auf polnischer Seite freimütig von den großen Zeiten des Schmuggelns erzählt, bei den Deutschen wiederum davon geschwärmt, dass in Polen alles billiger ist. In Aurith erinnert man sich aber auch an die Ängste vor polnischen Plünderern während der Oderflut. In Urad erzählt man indes von einem alten Deutschen, der eines Tages ins Dorf kam und sein ehemaliges Haus suchte. Er nahm schließlich etwas Erde aus dem ehemaligen Garten in einer Plastiktüte mit – ein Stück Heimat.

Jahrhundertelang war Aurith ein Dorf, das auch der mächtige Oderstrom nicht zu trennen vermochte. Erst der Ausgang des Zweiten Weltkriegs schaffte eine neue Ordnung für Millionen von Menschen, eine Grenze, die mit einem Strich auch dieses Dorf entzweite. Aus Aurith wurde auf der nun polnischen Seite Urad, der ehemalige Name des Ortes, der einst slawische Wurzeln besessen haben soll. Der deutsche Teil behielt seinen Namen Aurith.

Östlich der Oder siedelten sich Menschen aus Ostpolen an, aus den Gebieten Polens, die an die Sowjetunion gegangen waren. Heute sind es immer die gleichen Geschichten, die sie erzählen. Dass sie nach dem Krieg ziellos in Zügen in Polen umherfuhren, bis man ihnen irgendwo sagte, dass sie bleiben sollten. Die meisten kamen so eher zufällig nach Urad, aus Gebieten, die heute in der Ukraine und Weißrussland liegen. Tina Veihelmann erzählt die Geschichten der Menschen, die in Aurith/Urad eine neue Heimat suchten aus der Perspektive von drei Generationen.

Polen und Deutsche, Flüchtlinge und Vertriebene, Gewinner und Verlierer, Einheimische und Fremde, sie alle fanden sich vor rund 60 Jahren in den beiden Orte wieder, die plötzlich am Ende der Welt lagen. Bis sie ebenso plötzlich wieder in die Mitte des neuen Europas gelangten. Doch auch in dieser Mitte ist man heute weit weg vom Zentrum. „Zwar liegen Urad und Aurith mitten in Europa. Doch dieses Europa geht über Dörfer wie diese schneller hinweg als wir glauben“, schreibt Uwe Rada in seinem Vorwort. Er spricht vom „verschwindenden Europa“.

Nehmen wir etwa Alicjas Traum. Alicja, deren einziges Kapital vor Jahren ein Arbeitsunfall war. Mit der Abfindung zog sie im polnischen Urad in einem Container eine Fernfahrerkneipe auf. Mittlerweile ist die „Bar unterm Birnbaum“ daraus geworden. Der Bierschaum steht in den Halblitergläsern, der Zapfhahn tropft beständig und über die Theke geht Bier und der Sauerkrauteintopf Bigos: Bier und Bigos, Bier und Bigos, immer wieder. Alicja träumt indes schon von einem Hotel. Ihr 25-jähriger Sohn hilft eifrig mit und nennt das ganze „Familienbiznes“. Doch wird es hier auch in Zukunft genug Fernfahrer geben? Es bleibt offen.

Auch Annäherungen und Grenzüberschreitungen finden sich in den Geschichten. Etwa Roland aus Frankfurt/Oder, der Jolanta aus Urad geheiratet hat und sie zur Hochzeit über die Oderbrücke trug. Heute wohnt er mit seiner Frau im polnischen Urad und sie arbeitet in einem deutsch-polnischen Jugendprojekt in Frankfurt. Das Leben in Urad vergleicht Roland mit einer Großfamilie. „Man muss nicht jeden mögen, man muss auch nicht alles miteinander besprechen, aber man hilft sich, wenn man sich braucht.“

Oder die Schülerin Isabell, die im Sommer mit einer Freundin durch die Oder geschwommen war. Um Bogdan zu imponieren, der selbst als erster mit einem Freund auf die deutsche Oderseite geschwommen war. Eine nicht ungefährliche Mutprobe. Isabell hatte sich danach ein Foto von dem Jungen mit einem Herz umrahmt ins Zimmer gehängt. Das Foto hat sie mittlerweile wieder abgehängt. Bogdan ließ sich nicht mehr blicken. Wenn Isabell mit der Schule fertig ist, will sie weggehen aus Aurith, sie will Friseuse werden, in Frankfurt oder in Eisenhüttenstadt.

Wenn man die Fotos in dem Band betrachtet, fällt eines deutlich auf: Die Gesichtszüge der Deutschen sind oft skeptisch und verschlossen, die der Polen meist offen und optimistisch. In Urad spielen ausgelassene Kinder, in Aurith sieht man kaum welche. Die Böttchers aus Aurith erzählen dann auch, dass sie nicht nur nach Polen fahren, weil es dort billiger ist. Sie mögen auch, dass die Menschen dort weniger bürokratisch sind. „Die sind ein bisschen freier wie wir, die Polen“, sagt Hilda Böttcher.

„Aurith – Urad, zwei Dörfer an der Oder“, von Tina Veihelmann anschlaege.de, 248 Seiten, 9,80 Euro, ISBN-10: 3-936168-38-5.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false