Von Gerold Paul: Am Anfang nur ein Traum
György Dalos stellte in Potsdam sein Buch „Der Vorhang geht auf“ vor
Stand:
Im Frühjahr 1985 geschah etwas ziemlich Ungewöhnliches. Der ungarische Historiker und Schriftsteller György Dalos schrieb ganz im Stillen an einem Zukunftstext, darin die Sowjetunion völlig freiwillig von ihren Satellitenstaaten erlöst wird. Die Verabschiedung des großen Bruders von seinen winzigen Zöglingen geschieht gewaltlos, mit Tschängderäng und Blumen, doch was nun? Eingedenk gewisser Föderationsideen des Ungarn Kussuth im 19. und des Bulgaren Dimitroff Mitte des 20. Jahrhunderts erfand György Dalos einen „Bund freier und demokratischer Staaten“ mit sozialistischer oder gemischter Wirtschaft, nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gegenüber den Weltmächten. Eine kühne Utopie damals. „Wozu aber die jahrzehntelange Tätigkeit der Verantwortlichen und Realisten geführt hat, das wissen wir bereits“, so schließt dieser vorauseilende Text. Und so schließt auch sein neues Buch „Der Vorhang geht auf“, das György Dalos am Mittwoch in der Landeszentrale für Politische Bildung vorgestellt hat.
„Der Vorhang geht auf“ beschreibt erfrischend lebendig, wie Dalos’ Traum sich in der Wirklichkeit der wirren Zeit um 1989 zurechtfinden musste und wie es letztlich nie zur Wahrheit wurde. Gemeint sind die Länder Polen, DDR, Ungarn, Rumänien, CSSR und Bulgarien, der einstige Warschauer Vertrag. Mit einer so detaillierten wie den Überblick behaltenden Feder schildert der einstige Moskau-Student den mehr oder weniger friedlichen Zerfall der einzelnen Länder, wobei ihm gelegentlich auch mal der Schalk über die Schulter schaut. Angefangen hat ja alles mit der Einsetzung eines neuen Königs im Kreml am 12. März 1985. Michail Gorbatschow löste seinen greisen Ziehvater Tschernenkov ab, ein genauso „herausragender Führer der Partei“ wie das gesammelte Gesocks vor ihm.
Am Ende des Buches hat György Dalos die politischen Abläufe der einzelnen Länder noch einmal aufgelistet: Fast immer begann die Liberalisierung mit dem Jahr 1985. Nach Ansicht des Autors erwartete Gorbatschow damals eine Schicksalswende. Er sah den wachsenden Zwiespalt zwischen den nationalen Interessen der Satellitenstaaten und einer völlig unelastischen Ideologie, die ganz offenbar nicht universell war. Es machte immer mehr Mühe, die Oppositionen nieder- und diese Länder zusammenzuhalten. Andererseits belasteten die lieben Bruderstaaten die Ressourcen und Kräfte der Sowjetunion immer stärker. Fürs Überleben der UdSSR warf der Staat dann all seine Satelliten ab. Gorbatschow war also kein herausragender Held, sondern vielleicht der einzige Realpolitiker jenseits des Eisernen Vorhangs, so György Dalos.
Es machte Freude, so fundiert wie glänzend geschriebene Texte unter griffigen Titeln zu hören: „Die Tafelrunde der Erzfeinde“ in Polen, „Der gemütliche Weltuntergang“ in Ungarn, „Revolte in Samthandschuhen“ für die CSSR, für die DDR fand der 1968 aus der ungarischen KP geflogene Autor die Sentenz „Demokratie zwischen Spaltung und Einheit“. Da kommt mehr ans Licht als Modrows ferngesteuerte Übergangsrolle in die vorhersehbare Einheit oder die von der SED im Stillen mitorganisierte Großveranstaltung auf dem Berliner Alexanderplatz November 1989. Gorbatschow sagte damals offen, im Unterschied zu allen anderen Ostblockstaaten sei die DDR von Anfang an ein Kind des Kreml gewesen, und diese Vaterschaft werde auch anerkannt.
Angesichts der erstaunlichen personellen Besetzungen in der Zeit während und auch nach der Beseitigung der Diktaturen versteht Dalos seinen Titel durchaus doppelbödig. „Überall waren Theaterleute in der ersten Reihe. Da ist tatsächlich ein Vorhang für eine andere Inszenierung hochgegangen.“ Viel Hintergrundwissen, überraschende Zusammenhänge allerorten bietet György Dalos mit „Der Vorhang geht auf“. In diesem Buch kann man sie nachlesen, die Wege von der Theorie zur Praxis.
György Dalos: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, C. H. Beck Verlag, 270 Seiten, 19.90 Euro
Gerold Paul
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