
© Jörg Carstensen/dpa
Wladimir Kaminer liest in Potsdam: „Am Ende kriegen die Russen die Kurve“
Autor Wladimir Kaminer macht sich nicht viel aus Weihnachten – umso mehr aber aus Europa. Da sollte sich im neuen Jahr manches verbessern, findet er. Nicht zuletzt in seiner Heimat Russland. Nun liest Kaminer in Potsdam.
Stand:
Herr Kaminer, Sie sagen, beruflich sind Sie ein deutscher Schriftsteller und privat ein Russe. Sind Ihnen Nationalitäten überhaupt wichtig?
Mir nicht, aber ich verstehe die Leute, die noch immer in Nationalitäten denken.
Was meinen Sie, ziehen die Menschen daraus?
Nationalitäten sind Klischees, es sind Bausteine. Jeder Mensch ist ja anders, wie soll man damit umgehen in einer Welt mit so viel Vielfalt? Die Nationalitäten geben Menschen bestimmte Erkennungsmerkmale, damit man dann die einen von den anderen unterscheiden kann. Es macht das Leben einfacher.
Letztes Jahr haben Sie in einem „Welt“-Artikel zur Krim-Krise geschrieben: „Ich schäme mich für meine Heimat, die, unverantwortlich ihrem sogenannten Präsidenten folgend, die Welt an den Rand des Krieges bringt.“ Und ein Jahr danach?
Ich kann nicht sagen, dass das Schämen zum Dauerzustand geworden ist. Aber es ist schade um die Leute in Russland. Die Russen haben gezeigt, dass sie der Freiheit nicht trauen und KGB-Offiziere brauchen, um Sicherheit zu erfüllen. Diese Schwäche wird jetzt gerade bestraft. Die Gesellschaft verkleinert sich. Aber ich bin ein historischer Optimist, ich glaube, letzten Endes kriegen sie doch die Kurve.
Sie sprechen auch über Freunde in Russland, die sagen: „Freiheit können wir uns nicht leisten.“ Und dass ökonomische Nöte Putin ein leichtes Spiel machten. Glauben Sie, dass Freiheits- und Gleichheitsrechte Privilegien wohlhabender Staaten sind?
Nein, aber sie sind sicher mit einer Anstrengung verbunden, die gibt es nicht einfach umsonst. Gerade in den Ländern, die keine Erfahrung haben mit der Demokratie. Man muss Ängste überwinden und Unsicherheiten. Zum jetzigen Zeitpunkt sind sie vielleicht noch nicht dazu bereit, aber sie schaffen es früher oder später.
Haben russische Autoren eine besondere Bedeutung für Sie?
Den großen russischen Autoren wurde eine bestimmte Aufgabe zugedacht. Die Literatur spielte eine herausragende Rolle, sie ersetzte die Politik und große Teile des gesellschaftlichen Lebens. Sie ersetzte zum Teil die Religion. Das war ein moralischer Wegweiser der Gesellschaft. Das kann sie heute nicht sein.
Warum nicht?
Weil wir hier – also in Deutschland – in einer freien Gesellschaft, in einer Demokratie leben. Es gibt hier eine Meinungsqualität. In einer Welt, wo jeder eine Meinung haben darf und sie auch äußern kann, in dieser Welt gibt es keinen Platz für einen erhobenen Zeigefinger, der allen zeigt, wo es langgeht.
Ihnen wird das Motto nachgesagt, dass Beobachten besser sei als Fantasieren. Heißt das, Sie mögen keine fiktiven Geschichten?
Wir leben in einer Welt, die ständig Geschichten produziert, aber nichts Fiktives an sich hat. Es ist alles sehr real. Wozu soll man sich anstrengen, sich etwas auszudenken, wo doch das Leben einem so viele Geschichten parat hält?
Es gibt so viele Autoren, die über Alltag schreiben. Warum finden Sie den spannender als die großen Dramen?
Für mich sind im Alltag große Dramen und Geschichten enthalten. Gerade im Kleinen kann man das Große viel besser erkennen.
Ihre Geschichten sind von Ihrer Familie inspiriert. Werden Sie im Waschhaus wieder aus dem Alltag der Kaminers erzählen?
Letztes Jahr war ich in Potsdam mit dem Buch „Coole Eltern leben länger“. Es ging um die Pubertät, eine sehr spannende Zeit für mich, weil ich selbst keine solche Erfahrung gemacht habe. Bei uns gab es ja keine richtige Pubertät in der Sowjetunion. Und ich habe gesehen, dass die Leute in Potsdam mit Interesse zuhörten. Also werde ich dieses Jahr erzählen, wie es mit den Geschichten weiterging. Inzwischen sind meine Kinder ziemlich erwachsen geworden, darüber werde ich auch erzählen.
Und im Anschluss darf in der „Russendisko“ getanzt werden.
Ja, ich werde auch auflegen. Das ist wichtig. Ich bin letztes Jahr vom Potsdamer Publikum begeistert gewesen, weil es so tanzwütig war. Kaum in einem anderen Ort haben die Menschen so lange durch die Nacht getanzt wie in Potsdam.
Bald ist ja auch Silvester. Haben Sie gute Vorsätze für 2016?
Ja, ich habe Vorsätze. Ich bin ein Fan von Europa. Ich möchte, dass die Europäische Union es schafft, aus dieser komplizierten Lage, wo die halbe Welt um uns herum zusammenbricht, stark herauszukommen. Und da möchte ich mich auch einbringen.
Feiert man in Russland Weihnachten und Silvester anders als in Deutschland?
Also, Weihnachten im religiösen Sinne gibt es ja gar nicht. Ich habe kürzlich festgestellt, dass meine Mutter – eine atheistisch erzogene Frau – überhaupt keine Ahnung hat vom Christkind und allem was damit zu tun hat. Sie fragt mich eh ständig, wieso wurde es im Stall geboren? Ja wieso eigentlich im Stall? Hat das eine Tradition, dass man Kinder im Stall bekam?
Nein. Es war ihre Notunterkunft. Niemand wollte Maria und Josef aufnehmen.
Ach so.
Die Religion einmal ausgenommen: Gibt es Traditionen, die in Russland einfach anders sind als in Deutschland?
Also, es gibt einen Tannenbaum, aber der Weihnachtsmann heißt Väterchen Frost. Der kommt an Silvester. Und es gibt den sogenannten französischen Salat Olivier. Das ist eine sehr fettige Speise, ein Kartoffelsalat mit Wurststücken und ausreichend Mayonnaise. Und es gilt als gutes Omen, wenn man am Ende, nachdem man die ganze Nacht durchfeiert hat, in diesem Salat einschläft. Das bringt Glück.
Das Gespräch führte Theresa Dagge.
Wladimir Kaminer kommt am Montag, dem 28. Dezember, nach Potsdam. Ab 20 Uhr liest der russisch-deutsche Autor im Waschhaus an der Schiffbauergasse aus seinen Geschichten des vergangenen Jahres. Dann wird Kaminer in der „Russendisko“ auflegen. Der Eintritt kostet 16 Euro, 20 Euro an der Abendkasse.
ZUR PERSON: Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, lebt seit 1990 in Berlin-Prenzlauer Berg, direkt am Mauerpark. Dort schreibt er Bücher, zuletzt: „Coole Eltern leben länger“ und „Das Leben ist keine Kunst“. Wenn er mal nicht schreibt, legt er auf – legendär ist seine Veranstaltungsreihe „Russendisko“.
Theresa Dagge
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