zum Hauptinhalt
Maria als Fürbitterin. Im Chor von St. Nikolai in Bad Wilsnack.

©  CVM

Kultur: Andacht und Folter

Zwei Bände voller Glasmalerkunst

Stand:

Wenn das Sonnenlicht durch die Fenster im Altarraum der St. Nikolaikirche in Bad Wilsnack fällt, scheint die Kirche von vielfarbiger, sakraler Helligkeit erleuchtet. Ein buntes Lichtspiel legt sich über den backsteinernen Innenraum der Kirche. Etwa seit 1400 erleuchtet das diffuse Streulicht der Kirchenfenster den Raum.

Welchen Bildreichtum die hohen, schmalen Fenster bergen und über die Jahrhunderte unverändert bewahrt haben, zeigen die Fotoaufnahmen, die Holger Kupfer im Auftrag des Corpus Vitrearum Medii Aevi (CVMA) gemacht hat. Das Potsdamer Institut katalogisiert zusammen mit seinem Schwesterinstitut in Freiburg die Glasmalereien der Kirchenfenster in Deutschland. Beide Institute sind Teil der jeweiligen Akademie der Wissenschaften. Am Dienstag wurde in Berlin das zweibändige Werk „Die mittelalterlichen Glasmalereien Berlin und Brandenburg“ vorgestellt, das neben einer kunsthistorischen Einführung 857 Abbildungen in schwarz/weiß und 175 farbige Abbildungen mittelalterlicher Glasmalereien umfasst.

Was Gläubigen im Kirchenschiff als schillerndes Farbenspiel erscheint und die getragene Stimmung einer Kirchenmesse unterstützt, erweist sich beim näheren Hinsehen als gar nicht so friedliche Angelegenheit. Der heilige Erasmus im Nordfenster der Kirche trägt zwar eine Bischofsmitra und lächelt verklärt, ihm werden allerdings gerade die Eingeweide mit einer Darmwinde aus dem Magen gezogen. Auf den bildreichen sakralen Fensterfassungen finden sich allerlei Szenen, die sich nahtlos in jeden aktuellen Splatterfilm fügen würden. Eine weitere Szene zeigt Erasmus, wie er in einem Kessel mit Öl gesiedet wird, was ihm der Überlieferung zur Folge allerdings keine Verbrennungen, sondern die Heiligsprechung einbrachte. Ihre Bedeutung erlangte die Wilsnacker Kirche als Wallfahrtsort, als nach einem Brand der kleineren Dorfkirche dort angeblich blutende Hostien gefunden wurden.

Kaum einem zufälligen Besucher der kunsthistorisch bedeutsamen Backsteinkirche wird der Detailreichtum der Darstellung unmittelbar auffallen. Auf der Internetseite des CVMA jedoch sind auch die kleinsten Farbnuancen und das gesamte dramatische Geschehen in vorbildlicher Gliederung nachzuvollziehen.

„Mit einem Weitwinkel ist das nicht zu machen. Wir bauen jedes Fenster aus und fotografieren die Scheiben dann einzeln“, erläutert Frank Martin, einer der Herausgeber von „Die mittelalterlichen Glasmalereien Berlin und Brandenburg“. Mit einer großen, analogen Plattenkamera schafft Frank Kupfer Aufnahmen, die jede noch so kleine Schattierung der Jahrhunderte alten Kunst fixiert. Die Abzüge werden dann unmittelbar eingescannt. Nach und nach entsteht so ein kunsthistorisch einmaliges Archiv. „Die Glasmalerei wird die einzige Bildgattung sein, die vollständig fotografiert und kunsthistorisch aufgearbeitet ist, wenn das Projekt abgeschlossen ist“, stellt Martin fest.

Das Projekt beschränkt sich nicht auf Potsdam, Freiburg und die Bundesrepublik, sondern ist Teil eines weltweiten Verbundes. Nachdem im Zweiten Weltkrieg viele Kirchen von Bombardements betroffen waren, gründeten Wissenschaftler 1952 unter der Führung des Berner Kunstwissenschaftlers Hans R. Hahnloser das Corpus Virearum. Die zunächst auf Europa beschränkte Vereinigung machte es sich zum Ziel, sämtliche mittelalterlichen Glasmalereien zu dokumentieren. Nach dem Mauerfall war die Zukunft der Glashistoriker zunächst unklar, aber dann übernahm die neu gegründete Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften die Forschungsstelle. „Berlin und Brandenburg haben wir jetzt erfasst. Langsam nähern wir uns unseren Kollegen aus Freiburg“, beschreibt Martin das weitere Forschungsvorgehen. Richard Rabensaat

Die mittelalterlichen Glasmalereien Berlin und Brandenburg, 2 Bände, Akademie Verlag, Berlin 2011, 298 Euro

Richard Rabensaat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })