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Von Heidi Jäger: Aus der Masse herausgetreten

Die Wende und 20 Jahre danach: Der Fotograf Joachim Liebe entdeckte ganz individuelle Geschichten

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Sie wirken wie auf verlorenem Posten – schreiten zu zweit entgegen dem Strom. „Keine Macht für niemand“ steht auf der Flagge, die müde hinter dem Budjonni bemützten Kämpfer weht. Eine leise Momentaufnahme wie aus ferner Zeit. Festgehalten von dem Potsdamer Fotografen Joachim Liebe, der mit diesem innigen Vater-Sohn-Bild sein Buch „Wende.Wandel. Wiedersehen – 20 Jahre danach“ titelt. Ein melancholisch-berührender Hingucker aus dem Jahr 1989, dem beim Durchblättern der ersten Seiten etwas Ernüchterung folgt. Zu sehen sind Massen bei den Demonstrationen vom 4. November 1989 auf dem damaligen Platz der Nationen in Potsdam, die Öffnung der Glienicker Brücke am 11. November, Mauerstürmer in Berlin-Tiergarten, Jubel am Brandenburger Tor ... Was in dem Fotobuch „Linienuntreue“ von Bernd Blumrich vor zwei Jahren noch tief unter die Haut ging, wirkt inzwischen merkwürdig abgestanden, sicher der Flut an Bildern zu „20 Jahre Mauerfall“ geschuldet, die derzeit durch die Medien rauscht.

Doch das Buch wird beim weiteren Blättern immer kraftvoller und dichter: wenn Gesichter herausgelöst, Menschen in skurrilen Situationen, wie beim Verramschen einstiger Machtsymbole gezeigt werden. Vor allem aber die entrückten Stillleben ziehen hinein. Mit atemberaubender Eindringlichkeit baut sich der „Mauerfriedhof“ in Güterfelde auf: Betonreste des Grenzwalls, die wie Totenkläger in den wolkenlosen Himmel rufen. Die durch den Mauerstreifen zerschundene Natur in der Schwanenallee oder der Trabi vor dem verwaisten Grenzturm in Klein Glienicke wirken wie Relikte aus einer kaum mehr begreifbaren Vergangenheit. Der Autor schafft Kontraste, zeigt Jubel, Hoffnung und Selbstvertrauen, aber auch Innehalten, Staunen, Nachdenken.

Mitunter hätte man sich unter den Fotos ausführlichere Erklärungen gewünscht, um inzwischen verblasste Erinnerungen besser einzuordnen. Vieles ist viel zu schnell vergessen.

Der besondere Reiz dieser Schwarz-Weiß-Aufnahmen liegt in dem porträthaften Bogen, den der Fotograf schlägt. Denn einige der Menschen, die ihm 1989/90 zufällig vor die Kamera gerieten, suchte er 20 Jahre später ganz bewusst. Er ging in Kneipen, zu Imbissbuden und Dorfbürgermeistern und wurde fündig. Doch längst nicht mit allen konnte Martin Ahrends, der von Joachim Liebe betraute Autor, sprechen. Einige waren verstorben, andere nicht bereit, sich erneut fotografieren zu lassen und über sich zu sprechen. „Ja, wäre der Osten voll von Geschichten, in denen sich die Hoffnungen der Wende erfüllten, Geschichten von Selbstverwirklichung, Stolz und Glück, dann hätten es Joachim Liebe und Martin Ahrends leichter gehabt“, schreibt der Schriftsteller Thomas Brussig im Vorwort.

Auch der Fahne tragende Dietmar Geier, der mit seinem lockerem Mundwerk einst unerschrocken der DDR-Staatsmacht die Stirn bot und trotz Stasiknast in der DDR bleiben wollte, sagt heute: „Wenn ich gewusst hätte, wie das alles kommt, hätte ich vor der Wende auch in den Westen gehen können.“ Er landete erneut im Knast, diesmal wegen Dealerei, und ist heute fester Kunde beim Arbeitsamt. Die einstige Regieassistentin Barbara Mädler-Vormfeld, die 1989 mutig das Plakat „Neue Männer braucht das Land“ auf einer Demo präsentierte und sich nach dem Wegbrechen ihrer DEFA-„Familie“ verloren fühlte, schätzt heute als Rentnerin den Gewinn an persönlicher Freiheit.

Joachim Liebe fotografierte seine wiedergefundenen Protagonisten an der selben Stelle, an der er ihnen vor 20 Jahren mit dem Auslöser begegnete. Wie den damaligen Krankenpfleger und jetzigen Arzt Stephan Lück, der 1989 auf der Klement-Gottwald-Straße für Basisgruppen demonstrierte und heute alternative Lebensformen vermisst. Er fühlt sich inzwischen fremd in seiner Heimatstadt. Die dreifache Mutter Antje Wiesigstrauch sagt indes: „ Das Leben ist sehr turbulent geworden, aber nicht eng, es findet immer noch mitten in Potsdam und in dem großen Freundeskreis statt.“

So wie Joachim Liebe sich mit der Kamera einfühlsam den Porträtierten zuwandte, griff auch Martin Ahrends ihre Sprache und Intention unverfälscht auf. Aus dem Nebeneinander so unterschiedlicher Menschen, die 1989 zumeist alle für einen „dritten Weg“ auf die Straße gingen, erwuchs ein kraftvoller Baum mit neugierig ausgestreckten Zweigen und einem vielstimmigen Blätterwald. Die Autoren lassen „ihre“ Potsdamer aus der Masse heraustreten, zeigen, wie sie die Individualität leben, die ihnen so lange untersagt blieb. Einige sind jedoch im Vorwärtsmarsch auf der Strecke geblieben.

„Wir sind heute vielleicht weniger glücklich, als wir damals zu werden hofften, aber immer noch glücklicher, als wenn es die Wende nie gegeben hätte“, schrieb Thomas Brussig. Eine Stimme, die sich im Kanon dieses spannenden vielgesichtigen Buches immer wieder findet.

Joachim Liebe, Thomas Brussig, „Wende. Wandel. Wiedersehen - 20 Jahre danach“, Gespräche aufgezeichnet von Martin Ahrends, erschienen bei Koehler & Amelang, 19.90 €, 125 Seiten.

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