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Ausstellung "Der große Terror" in Potsdam: Bilder der Verscharrten

„Der große Terror“ heißt die neue Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam. Gewidmet ist die Schau den Menschen, die den Großen Terror der Stalin-Herrschaft nicht überlebten.

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Potsdam - Alexei Grigorijewitsch Scheltikow wurde am 8. Juli 1937 verhaftet. Am 31. Oktober desselben Jahres angeklagt der Mitwirkung in einer konterrevolutionären Gruppe und der Vorbereitung von Terrorakten. Nur einen Tag später wurde er erschossen. Das wusste er vermutlich noch nicht, als er im Gefängnis nur wenige Tage oder Stunden zuvor fotografiert wurde. Mit einem Blick zwischen Leere und Trotz schaut er in die Kamera, fast würdevoll das Hemd, dem zwar ein Kopf fehlt, dennoch bis zum Kragen geschlossen, darüber ordentlich ein Jackett.

Kurz darauf verschwand er in einem Massengrab in Sowjetrussland, in einem von etwa 300. Scheltikow, ein Schlosser in der Wartungswerkstatt der Moskauer U-Bahn, war einer von etwa 750.000 Menschen, die den Großen Terror der Stalin-Diktatur nicht überlebten, die Zeit von 1937 bis 1938, als etwa 1,5 Millionen Sowjetbürger über Nacht verhaftet, verschleppt oder exekutiert wurden. Der leiseste, kleinste Anhaltspunkt oder auch nur eine Nähe zu verdächtigen Personen genügte, um ins Visier des NKWD, des Geheimdienstes, zu gelangen. 15 Monate dauerte diese nationale „Säuberungsaktion“.

Jeden Tag 1600 Menschen hingerichtet

„Im Durchschnitt wurden also täglich 1600 Menschen hingerichtet“, sagt Tomasz Kizny. Der polnische Fotograf engagiert sich dafür, dass diese schwarze Zeit nicht in Vergessenheit gerät – und ist nun mit einem Ausstellungsprojekt im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) zu Gast. „Der Große Terror“ heißt die Ausstellung mit insgesamt 80 Bildern aus russischen Gefängnisarchiven, Ton-Bild-Projektionen über weitere 200 Opfer sowie zehn Interviews mit Nachfahren. Der Journalist und Fotograf sagt, das Thema war ihm wichtig – auch aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte. „Meine Familie wurde ins tiefste Russland deportiert. Wir haben uns keine Illusionen über das kommunistische System gemacht.“ Bis heute sei diese schreckliche Zeit in den Ländern der damaligen Sowjetunion historisch nicht richtig bewertet und kaum aufgearbeitet. Auch deshalb entschied er sich für dieses Projekt, das nun nach sieben Jahren Recherche seinen Abschluss findet. Die Ausstellung ist jetzt, nach Stationen in Polen, in der Schweiz und Frankreich, zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Das Thema gehöre zur Geschichte Europas – und somit auch nach Brandenburg, unter anderem als Beitrag zu gegenwärtigen Diskussionen, sagt Kurt Winkler vom HBPG. Denn auch in Brandenburg gab es einst „eine Lagerlandschaft“, wird heute an die Opfer von Diktaturen erinnert.

Neben den historischen Fakten, die einige Exponate wie Landkarten vermitteln, sind es vor allem die Archiv-Fotos, die den Betrachter in diese Zeit hineinziehen. Denn erst ein Bild, sagt Kizny, ein Image, erlaube eine Vorstellung von etwas, eine Imagination. Und so ging er auf die Suche nach Bildern, fand in den Gefängnisarchiven die typischen schwarz-weißen Fotos, im Seitenprofil und von vorn, die von einer akribisch-genauen Routine der Mitarbeiter zeugen und meist genau beschriftet waren mit persönlichen Daten zu Herkunft und Beruf. Manche Aufnahmen wurden nur wenige Stunden vor der Exekution gemacht. „Zur eigenen Sicherheit der Angestellten – zur klaren Indentifikation der Verurteilten.“ Hier fand Kizny Anhaltspunkte für seine Recherche; er suchte Angehörige, meist Kinder der Opfer, nun selbst schon in hohem Alter. In stundenlangen, sehr emotionalen Interviews erzählten sie von ihren Erinnerungen an diese Zeit des Terrors und wie sie die Verhaftung der Eltern erlebten; von der Suche nach Aufklärung und ihrer Erleichterung, als sie erfuhren, was mit ihren Angehörigen geschehen war. Kizny lässt die Menschen, die er Waisen des Terrors nennt, dabei in ihrer Muttersprache Russisch sprechen, weil er findet, das sei authentisch und emotionaler als eine Synchronisation. Der Besucher kann die deutschen Untertitel mitlesen.

Neue Siedlungen über alten Massengräbern

Die Fotos der zum Tode Verurteilten versteht man ohne Text. In ihrer erschreckenden, fast banalen Klarheit spiegeln sie die aberwitzige Realität dieser Zeit wider. Die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und Berufen, darunter auch viele Geistliche, sehen aus, wie gerade aus ihrem Alltag geholt. Sie tragen keine Häftlingssachen, sondern ihre ganz normale Kleidung, Anzug oder Arbeitsjacke, die Frauen bunte Blusen oder Kleider. „Ich sehe sie noch vor mir, sie trug, als man sie abholte, das blau-weiße Sommerkleid, das hatte sie sich gerade genäht“, sagt im Interview eine Frau über ihre Mutter.

In den Gesichtern der Häftlinge sieht man kaum Spuren von Misshandlungen oder Entbehrungen wie Hunger. Es muss damals alles schnell – und gründlich – erledigt worden sein. So schnell, dass manche der Porträtierten fast ungläubig schauen, überrascht und bisweilen so, als wären sie davon überzeugt, dass es nicht so schlimm kommen würde. Wie schlimm es kam, davon zeugen Bilder, die Kizny nun von den Orten machte, an denen Massengräber gefunden wurden oder vermutet werden. Und als wollte man Gras drüber wachsen lassen, befinden sich dort heute neue Siedlungen, Straßen oder Bahntrassen – selbst Mülldeponien.

Die Ausstellung im HBPG, Am Neuen Markt 9, ist geöffnet bis zum 19. April. Der Eintritt beträgt 3, ermäßigt 2 Euro.

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