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Kultur: Bittere Flügelschläge

Balianis „Kleine Engel“ hatten in der Reithalle A Premiere

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Balianis „Kleine Engel“ hatten in der Reithalle A Premiere Dichte Nebelschwaden legen sich wie ein weicher Wolkenteppich zwischen den metall glänzenden Wällen. Die bizarre Romantik ist jedoch trügerisch. Sobald sich der Nebel legt, bleibt eine karge Verlorenheit – eine Welt zwischen den Welten. In diesem Niemandsland, das der Bühnenbildner Dirk Seesemann trefflich entrückt in die Reithalle A hinein zeichnet – begegnen sich Rocco und Assunta. Beide haben einen langen Weg hinter sich – ohne Essen und ohne Dach über den Kopf. Doch unter dieser letzten Straßenlaterne soll sich nun alles ändern, endlich soll ihr lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen: eine Arbeit. Das Stück „Kleine Engel“ von Marco Baliani unternimmt keineswegs den Versuch, eine realistische Geschichte messerscharf und in aller düsteren Konsequenz auf die Bühne zu bringen. In dieser einfühlsamen Inszenierung von Bettina Rehm regiert die Fantasie. Vorgestellt werden zwei Menschen, die sich zwischen ihren Ängsten und Träumen bewegen – die zu den Engeln aufsteigen wollen, um der Bitternis zu entfliehen. Es ist eine schwierige Gratwanderung, trotz der weidlich ausgekosteten Situationskomik das tragische Schicksal der beiden Arbeitslosen wie eine unsichtbare Hülle mitschwingen zu lassen, ohne dass sie erdrückt. Für das erwachsene Publikum ging diese Rechnung offensichtlich auf. Sie erfreuten sich an den unverdrossenen Flugversuchen der „Himmelsstürmer“, an dem imaginären Makkaroni-Essen, dem Flirt zwischen Rocco und seiner „Verlobten“. Und doch sehen sie die Ausweglosigkeit, spüren die leisen Zwischentöne, die die Kehle immer wieder zuschnüren lässt. Für die Kinder scheint die Inzenierung indes vorrangig unterhaltsam zu sein. Die Meinungen schwanken zwischen lustig und langweilig, nur wenige spürten auch die Bitterkeit in dem „süßen“ Trunk. „Schade, dass nicht zu sehen war, ob sie am Ende doch noch Arbeit kriegen“, hofften einige unverdrossen auf ein Happyend. Für die Erwachsenen war indes klar, dass Assunta und Rocco in den Himmel aufsteigen, es für sie keinen neuen Tag auf dieser Erde mehr geben wird. Eingehüllt in schützenden Folien, wie man sie von Obdachlosen kennt, versuchen sie der Kälte zu fliehen. Diesmal sind es nicht die Nebelschwaden, sondern weiche Schneeflocken, die die Beiden umhüllen. Vielleicht sind es aber auch die sanften Flügel der Engel, die sie in ihr Reich empor heben. Eine eindringliche, bestechende Poesie, die gerade durch ihre Zartheit tief unter die Haut geht. Die zwei Darsteller Anja Dreischmeier und Axel Strothmann füllen ihre Figuren mit großer Wärme aus. Sie durchschreiten die Gefühlsskala zwischen Traurigkeit und Zorn, Sehnsucht und Hoffung, Mitgefühl und Zärtlichkeit mit gutem Gespür. Vor allem Anja Dreischmeier besticht mit ihrer unbezwingbaren Natürlichkeit und kindlichen Naivität. Ihre erfrischende Lebendigkeit lässt den sparsam gezeichneten Handlungsstrang weitgehend vergessen. Auch wenn Axel Strothmann etwas grober geschnitten daher kommt, schafft auch er es, seiner Figur Glaubwürdigkeit zu verleihen und andere, nachdenklichere Facetten entgegenzusetzen. Gerade weil nicht viel über die Biografien der beiden Suchenden zu erfahren ist, müssen die Darsteller viel Ungesagtes mitspielen. Doch an den Stellen, wo die schmerzhaften Erfahrungen am Eindringlichsten durchblitzen, überlagern sich die Monologe, und sind vielleicht deshalb für die Zuschauerkinder nicht recht greifbar. So erzählt Assunta, dass sie schon öfter auf Probe angestellt worden sei und sich fast zu Tode geputzt habe. Doch am Ende blieb nie mehr als ein: „Nein, Danke“. Auch Rocco hat sich wieder und wieder in die Reihe gestellt. Aber wenn die Tür aufging, drängelte sich immer ein „Schurke“ vor. All“ seine Freunde fanden Arbeit, nur er nicht: „Was habe ich an mir, eine Krankheit, die Pest?“ Sein Arbeitsanzug musste feinsäuberlich im Rucksack bleiben. Nur einmal zieht er ihn über, als er mit Assunta im Traum über sein Dorf fliegt und als Arbeitsengel endlich jemand ist, zu dem man aufschaut. „Schaff, schaff“, heißt das Zauberwort, mit dem sie sich hinüberträumen in eine Welt, in der auch sie ihren Platz finden. Die „Kleinen Engel“ landeten in Potsdam zwischen Kopf und Herz. Auch wenn sie nicht von allen Kindern in ihrer ganzen Tragweite erfühlt und verstanden wurden, haben sie dennoch ihre Berechtigung. Auch wenn sie nur eine kleine Tür aufstoßen: in eine Welt, die vielen hoffentlich fremd bleibt. Heidi Jäger

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