
© Göran Gnaudschun
25 Jahre Deutsche Einheit - Gespräche über Freiheit (VIII): Bleiben wir Sisyphos
„Was war, was ist, was bleibt?“, haben wir anlässlich von 25 Jahren deutscher Einheit sieben Kulturschaffende aus Potsdam gefragt. Fazit: Es fehlt an Utopien.
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„Erinnerung ist immer auch eine Erfindung“, schrieb Antje Rávic Strubel auf die Einladung hin, sich an der Reihe „Was war, was ist, was bleibt“ zu beteiligen. „Schon jede Sekunde, die verstreicht, gehört der Vergangenheit an, muss also rekonstruiert werden. Und jede Rekonstruktion ist eine Version, der man ebenso viele weitere anfügen könnte.“ Die Potsdamer Autorin schrieb das in Bezug auf ihren Roman „Tupolew 134“. Er trägt im Titel den Namen eines Flugzeugs, das 1978 von zwei DDR-Bürgern entführt wurde, um so statt in Berlin-Schönefeld in Berlin-Tempelhof zu landen. Der Roman ist eine Art polyphoner Gesang, der die unterschiedlichen Stimmen der am Geschehen Beteiligten nebeneinanderstellt. Manchmal kommentieren sie einander, oft reden sie aneinander vorbei, manchmal widersprechen sie sich auch. In dem Roman geht es um die DDR und den Kalten Krieg, aber auch um die Frage: Wie funktioniert das Erinnern?
Erinnern heißt auch: sich selbst erfinden
Die facettenreichen Antworten, die „Tupolew 134“ gibt, beschreiben auch jene Einsichten, die die PNN-Reihe „Was war, was ist, was bleibt“ in den vergangenen Wochen ergab. Erinnern ist fragmentarisch, eine Frage der Perspektive und auch Vergessen. Im Erinnern bleibt das Vergangene nicht, was es war, sondern es wächst oder schrumpft, es verändert sich, wie der Sich-Erinnernde auch. Und wenn Erinnern Erfindung ist, dann nicht nur des Gewesenen, sondern auch Erfindung dessen, der sich erinnert. Darin, wie wir über die Vergangenheit sprechen, zeigt sich, wer wir heute sind und wer wir gerne gewesen wären. Deswegen ist Erinnerung so verführerisch: Sie gehört uns, niemand kann es besser wissen, wir haben ein Recht der Alleinherrschaft über diesen Erfahrungsschatz. Haben ein Recht darauf, ihn zu verwalten, das Gesagte zu formen. Gleichzeitig waren wir, egal wo, nie allein. Es gibt immer andere, deren Alleinherrschaftsgebiet in das eigene greift, die sagen: So war es nicht, ich war auch da! Deswegen macht Erinnern so angreifbar. Denn jemandem zu sagen: So war es nicht!, heißt letztendlich zu behaupten: So bist du nicht!
Verwahrlosen wir heute seelisch?
„Jeder Text, der heute die DDR behandelt, ist eingefärbt vom Erinnerungsdiskurs der Gegenwart, von unseren derzeitigen Sehnsüchten, Problemen und Wünschen“, schrieb Antje Rávic Strubel. In den sieben Gesprächen der Reihe „Was war, was ist, was bleibt“ ging es tatsächlich um Erinnerungen, aber mehr noch um Sehnsüchte, Probleme und Wünsche. Es ging um Pioniernachmittage, Solidarität (davon gab es mehr vor 1989, sagt die Schauspielerin Rita Feldmeier; Ach was, die gab es genauso wenig wie heute, sagt Intendant Tobias Wellemeyer). Es ging um Schokomüsli aus dem Westen, um Improvisationskunst im DDR-Alltag und Lieder von Frank Schöbel. „Das ist ein Recht, sich an das Gute zu erinnern und dabei auch Spaß zu haben“, sagt Rita Feldmeier. Jahrgang 1954. Aber es ging vor allem darum, was dem Heute fehlt. „Ich glaube nicht unbedingt, dass wir hier verhungern werden“, formulierte Tobias Wellemeyer (Jahrgang 1961), „aber ich glaube, dass wir hier in dieser Zeit seelisch verwahrlosen.“
Keiner der Gesprächspartner wünschte sich die DDR zurück. Trotzdem: Mit Ausnahme von Antje Rávic Strubel, Jahrgang 1974, der Kosmopolitin, die von sich sagt, sie wisse gar nicht, was das für ein Gefühl sei, „ostdeutsch“, kannten alle Befragten Ostalgie. Aber muss das erschrecken? „Ostalgie beendet eine Enteignung“, schreibt der Publizist Christoph Dieckmann in seinem Buch „Rückwärts immer. Deutsches Erinnern“. „Sie beharrt auf persönlicher Geschichte, auf unverkürzter Biografie.“ Dumm werde sie nur, wenn sie doktrinär wird. Wenn sie eine kollektive Identität behauptet, „wo das einzelmenschliche Gewissen sprechen musste“. Bleiben wir also beim Einzelnen. Suchen wir keine kollektive Identität, sondern die Polyphonie. Suchen wir, wie in der PNN-Reihe geschehen, die Gespräche. Dort gab es, natürlich, gemeinsame Themen, die die Befragten bewegten. Die Freiheit war eins von ihnen, vielleicht das wichtigste. Vor allem die Frage: Wie frei sind wir heute? Rita Feldmeier: „Vielen fehlt der Mut, sich richtig frei und offen zu äußern.“ Aus Existenzangst, sagt sie. Frei äußern, das können sich ihrer Meinung nach heute nur die, die nicht Gefahr laufen, jederzeit gekündigt zu werden. Der Fotograf Göran Gnaudschun (Jahrgang 1971) stimmt Rita Feldmeier zu – und tut es auch nicht. Ja, auch er hat „seit ein paar Jahren das Gefühl, dass sich viele Leute hinter ihre Schützengräben zurückziehen und sich mit ihrer Meinung nicht mehr gern hervorwagen.“ Seine Analyse ist jedoch eine andere: „Aus Bequemlichkeit oder Opportunismus heraus. Und vielleicht ist das Teil meiner Sozialisation, dass ich mit Opportunismus nicht mehr umgehen möchte.“
Wider alle Vernunft an eine gerechtere Welt glauben!
Gnaudschun benennt auch jene Leerstelle, die die untergegangene DDR und die in den frühen 1990er-Jahren im Sande verlaufenen Versuche eines „Dritten Weges“ hinterlassen haben: Nach dem Überdruss der alten sozialistischen Ideen der Kinder- und Jugendzeit und dem Verpuffen der anarchischen Phase in den frühen 1990er-Jahren, als die Hausbesetzerszene in Potsdam ein Lebensmodell jenseits kapitalistischer Pfade versuchte, ist die Kraft und Energie eines Denkens, das sich traut, utopisch zu sein, verloren gegangen. Der Wunsch, die existenzielle Sehnsucht danach ist aber geblieben: „Es muss Menschen geben, die an eine gerechtere Welt glauben – obwohl sie wissen, dass es nicht funktionieren wird.“
Der Held von Göran Gnaudschun ist Sisyphos. Der, der den Stein bergan rollt, obwohl er nie wissen wird, ob sich die Aussicht von da oben lohnt. „Ja, man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, sagt auch die Regisseurin Lydia Ziemke, Jahrgang 1978. Sie, die Vertreterin der Dritten Generation Ost, zog nach der Schule „mit dem Gefühl von völliger Freiheit“ los, studierte in Edinburgh, London, und lernte, ein scheinbares Paradoxon, erst dort die Unfreiheit kennen: die Zwänge einer Welt, die auf Selbst-Marketing beruht. „Heute versuche ich die Freiheit mit aller Kraft zu verteidigen. Dazu gehört es, eine Kompanie zu führen, in der es finanziell funktioniert, aber auch andere Sachen wichtig sind.“ Eine Werteskala, in der Solidarität, Lebensqualität, Freundschaft, höher angesiedelt sind als Geld und Besitz, beschreibt auch die Malerin Barbara Raetsch, Jahrgang 1936. Zwischen ihr und Lydia Ziemke liegen 40 Jahre. Und doch empfinden sie ungefähr das Gleiche: „Ich schiele nicht nach dem großen Geld.“ „Ich brauche auch Geld, um zu überleben, meine Wohnung zu bezahlen. Ich brauche es zum Leben, aber nicht, um es anzuhäufen“, sagt Barbara Raetsch. Und ja: Sie fühle sich dadurch freier.
Wo lohnt sich Widerstand?
Aber ist all das – der Sisyphos-Gedanke, die nachgestellte Wertigkeit von Geld, die Versuche, die kleinen Freiheiten im Alltag zu verteidigen und die große zu suchen – nun ein ostdeutsches Erbe? Gibt es nicht bei Westsozialisierten, unter den Künstlern zumal, ein ähnliches Denken? Vielleicht geht es gar nicht darum, wer recht hat, und woher das kommt. Sondern darum, was das heute und für das Heute heißt. Wenn Lydia Ziemke, die zur Zeit des Mauerfalls ein Kind war, sagt: „Es gab im Kern etwas Erstrebenswertes in der DDR, aber man erreichte dieses Etwas nur über Einfallsreichtum und Widerstand“ – vielleicht geht es dann nicht um die DDR, sondern um die Frage, was man heute will, wofür Fantasie gut ist, wie man sie einsetzt, wo Widerstand sich lohnt und wo er sein muss. Vielleicht ist gerade das der Grund, warum man nicht aufhören sollte, über die DDR nachzudenken.
Alle Gespräche der Reihe nachzulesen unter www.pnn.de/kultur
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