Der israelisch-deutsche Dirigent und künstlerische Leiter von „Musik an der Erlöserkirche“ e.V., Ud Joffe, der von seiner Biografie aus Globalisierung in sich trägt, ist mit der deutschen Musik tief verbunden. Seit seiner Übernahme des musikalischen Lebens an der Potsdamer Erlöserkirche vor zwölf Jahren ist er von der Kontinuität von Aufführungen der großen oratorischen Werke von Bach, Mendelssohn Bartholdy oder Brahms nicht abgewichen. Natürlich hat er noch weitere Farben in das kirchenmusikalische Programm gemischt.
Vor neun Jahren rief er die Potsdamer Vocalwochen „Vocalise“ ins Leben. Zum 9. Mal finden sie in diesem Jahr statt, vom morgigen Sonntag bis zum 22. November. Deutsche Musik ist das übergreifende Thema. Zwanzig Jahre Mauerfall und die vor 60 Jahren in Folge des Zweiten Weltkrieges gegründeten beiden deutschen Staaten sowie der Berliner Mauerfall, der zur Wiedervereinigung führte, ist der äußere Anlass für das Musikfestival. Doch Ud Joffe will mit seinem facettenreichen Programm eine Innenschau von deutscher Musik anbieten, Auseinandersetzungen mit den Inhalten, ihrer Entstehungsgeschichte und Rezeption.
Die deutsche Musik, die Kunst der Deutschen, das spezifisch Deutsche in der Musik – es ist nicht mit einer Formel zu identifizieren, ohne Klischees wohl kaum zu fixieren. Was die Deutschen als Eigenschaft zu besitzen meinen, ist mit jener ewigen deutschen Suche nach der eigenen Identität verbunden.
Die Nationalsozialisten haben die Musik als Werkzeug ihrer ideologischen Ziele benutzt. Da pflegte man einen obskuren Geniekult um Beethoven und Wagner, andererseits prangerte man zeitgenössische Tendenzen an. In der DDR nahm die Pflege von Musik einen breiten Raum ein. Doch die Vorgaben, Direktiven von Staat und SED waren auch für die Tonkunst und ihre Interpreten verbindlich. Deutschland und die deutsche Musikkultur haben auch heute viele Metropolen, in denen zwar die Freiheit der Kunst oberstes Gebot ist, deren Ausübung aber von finanziellen Zwängen eingeengt wird.
Das Eröffnungskonzert am morgigen Sonntag in der Erlöserkirche hält zwei Werke bereit, die Ud Joffe auch als Passionsmusiken betrachtet: „Der Jasager“ von Kurt Weill und „Die Mutter“ von Hanns Eisler. Die Texte der Kantaten schrieb Bertolt Brecht nach einer japanischen Vorlage beziehungsweise nach dem Roman von Maxim Gorki. Brecht schrieb die Theaterstücke unter dem Einfluss der marxistischen Ideologie. Geht es in der Kantate „Der Jasager“, die 1930 an der Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln uraufgeführt wurde, um eine rituale Opferung eines Jungen, so wird in „Die Mutter“ von der Passion eines jungen Arbeiters während der Russischen Revolution 1905 berichtet. Die Mutter wandelt sich von einer politisch passiv denkenden Frau zur aktiven Freiheitskämpferin. Die Kantate entstand 1936. Das berühmte Lied „Lob des Kommunismus“ mit den Textzeilen „Er ist leicht. Du bist doch kein Ausbeuter; du kannst ihn begreifen, er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.“ Oder „Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist“ werden dabei besondere Fragen im Kirchenraum aufwerfen. Ud Joffe lädt vor der Aufführung, die um 17 Uhr beginnt, zu einer Podiumsdiskussion (14 Uhr) in den Gemeindesaal der Erlöserkirche, Nansenstraße, ein. Die Gesprächsteilnehmer Joachim Zehner, Superintendent des Kirchenkreises Potsdam, Gerd-Rüdiger Hoffmann, Die Linke, der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling sowie Christoph Stölzl, ehemaliger Berliner Kultursenator, werden sicherlich mit konträren Meinungen dem Nachdenken und Überdenken dieser sozialistisch geprägten Werke einen Schub geben.
Große romantische Musik deutscher Komponisten wird es indes im Sinfoniekonzert mit den Wesendonck-Liedern von Richard Wagner und dem Violinkonzert von Johannes Brahms, mit dem Oratorium „Paulus“ von Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms und den Kunstliedern von Robert Schumann geben. Auch dem deutschen Volkslied mit neuen Bearbeitungen wird ein Abend gewidmet sein, der Motettenkunst von Schütz, Bach und Mendelssohn ebenfalls. Die legendären Comedian Harmonists und die Vokaltechnik des Jodelns sollen bei der diesjährigen „Vocalise“ ihre Stimme haben.
Die Potsdamer Vocalwochen wollen ein breites Panorama deutscher Musik vermitteln, die zum unumstößlichen Welterbe gehört, die aber auch hin und wieder nicht frei von ideologischen Zwängen war. Klaus Büstrin
www.vocalise.de
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