Kultur: Das Bauchgrummeln eines müden Riesen
Jutta Hoffmann las im Literaturbüro aus Christa Wolfs posthum erschienenen „Moskauer Tagebüchern“
Stand:
Schade eigentlich, die „Moskauer Tagebücher“ von Christa Wolf, vorgetragen von Jutta Hoffmann im Potsdamer Literaturbüro, hätten eine jüngere Zuhörerschaft verdient gehabt. Weniger, um etwas über die einst bedeutendste, 2011 verstorbene DDR-Schriftstellerin zu erfahren. Das auch. Vor allem aber, um einen Blick auf den Koloss Russland zu werfen, der in der aktuellen, geopolitisch angespannten Situation des Ukrainekonflikts einmal mehr die Denkaufgabe stellt, was dieses Land ist. Was es verkörpert. Mit welcher Stimme es spricht.
„Wer wir sind und wer wir waren“ lautet unter Gebrauch eines Zitats von Boris Pasternak der Untertitel für die von Gerhard Wolf, dem Witwer Christa Wolfs, unter der Mitarbeit von Tanja Walenski herausgegebenen Reisetagebücher, Texte und Briefe. Und sie präsentieren ein Land, das, bei aller russischer Großliteratur der Nachkriegszeit, in der DDR so nie gezeigt wurde und alles andere darstellt als ein enthusiasmiertes Kollektiv, das mit wehender Fahne den Weg des Kommunismus beschreitet. Ganz im Gegenteil, wir blicken auf den müden, depressiven Riesen der Post-Stalin-Ära, dessen Bauchgrummeln ganz fürchterliche Blähungen erzeugt – Antisemitismus, Nationalismus, Lust- und Orientierungslosigkeit.
Christa Wolf bereiste die damalige UdSSR zwischen 1957 und 1989 insgesamt zehn Mal. Immer in Zusammenhang mit offiziellen Einladungen an Schriftsteller aus aller Herren Länder, Ost wie West. Anders als ihr Schweizer Berufskollege Max Frisch, dem sie auf einer dieser Reisen – mit anfänglich skeptischer Miene – begegnete und der die Form des Tagebuchs seit jeher als literarische Gattung mit der Absicht zur Publikation betrieben hat, verfasste Wolf ihre Texte rein privat. Während für spätgeborene Leser die Motivation für die Bewertung solcher Notizen eine eher untergeordnete Rolle spielt, mag man sich gar nicht ausmalen, was gewesen wäre, hätten diese Dokumente tagesaktuell den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Für die junge Schriftstellerin genauso wie für die junge DDR und mithin die linke Utopie, deren Realisierung zum Zeitpunkt der ersten Reise historisch maßgeblich noch bevorstand, wäre dies ein schwerer Schlag ins Kontor geworden. Die Erschütterung eines Glaubens allererster Ordnung.
Mit der für ein Kriegskind vielleicht typischen Maske der Zurückhaltung, die sie obendrein ihr ganzes Leben wohl nie abgelegt hat, zeichnet Wolf analytisch kühl ein politisches Zeitkolorit, das schließlich und endlich in eine beiläufige, dadurch aber gerade maximale Gesellschaftskritik der Verhältnisse des Projekts Sozialismus respektive Kommunismus mündet. Es gibt darin schöne Passagen wie: „Wolga. Wenn man die Augen zumacht, fahren die Ufer vorbei.“ Beschreibungen der Landschaft, die etwas von der russischen Melancholie widerspiegeln. Die aber auch als Flucht gelten dürften vor einer Gesellschaft, von der keine Erneuerung des Marxismus zu erwarten war.
Man kann es, muss es aber nicht tragisch nennen, dass diese Dokumente jetzt erst zugänglich gemacht worden sind. Sie sind eine Fundgrube für das Sezieren der kommunistischen Illusionsmaschine, in deren Wirken nicht zuletzt auch die „guten“ Schriftsteller heillos verstrickt waren. Jutta Hoffmann, die ihrerseits selbst einen Großteil ihres Lebens in der DDR verbracht hat, bespielte den Text mit immer wieder hervorbrechender Heiterkeit, um sich vor so vielem in Sicherheit zu bringen. Und um letztlich die Gegenwart vor der Vergangenheit zu retten.
Ralph Findeisen
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: