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Kultur: „Das Buch ist fertig, aber die Recherche dauert an“ Jenny Erpenbeck liest heute Abend aus ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“

Frau Erpenbeck, in Ihrem jüngsten Roman trifft ein emeritierter Professor mit DDR–Vergangenheit auf Flüchtlinge am Oranienplatz. In der Begegnung mit ihnen findet er Antworten auf seine Fragen.

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Frau Erpenbeck, in Ihrem jüngsten Roman trifft ein emeritierter Professor mit DDR–Vergangenheit auf Flüchtlinge am Oranienplatz. In der Begegnung mit ihnen findet er Antworten auf seine Fragen. Von Kritikern wird „Gehen, ging, gegangen“ als das Buch der Stunde bezeichnet. Seit wann brennt Ihnen das Thema unter den Nägeln?

Schon seit einigen Jahren hatte ich dieses Gefühl, dass Afrika ein vergessener Kontinent ist. Ich fand das merkwürdig. Flüchtlinge kommen ja schon seit etlichen Jahren von dort zu uns, ich wollte wissen, warum und auf welchen Routen sie kommen, was sie auf sich nehmen, um Europa zu erreichen. Ich habe begonnen, Bücher zu lesen, Dokumentarfilme anzusehen. Im Herbst 2013 gab es dann das erste große Bootsunglück, bei dem beinahe 400 Menschen gestorben sind. Damals haben mich die deutschen Reaktionen in den Medien und vor allem in den Internetkommentaren sehr befremdet. Fremd waren mir die eigenen Leute. Das war der Auslöser, dass ich mich gefragt habe: Warum sind die beiden Welten eigentlich so weit auseinander? Und das Fragen ist bei mir immer der Anfang vom Schreiben.

Wie haben Sie dann für diesen Roman recherchiert?

Ich habe über mehr als ein Jahr hinweg viele, viele Gespräche mit ungefähr zehn von den Oranienplatz-Flüchtlingen geführt, bin ihnen von einem Notquartier zum nächsten gefolgt, habe ihren Alltag des Wartens Tag für Tag gesehen, bin zu Anwälten, auf Ämter mitgegangen, habe Schriftstücke übersetzt, hier und da Deutschunterricht gegeben und so weiter. Wir haben auch zusammen gekocht, Musik gemacht. Das Buch ist nun fertig, aber die Recherche dauert an.

Inwiefern? Helfen Sie weiterhin ehrenamtlich den Flüchtlingen?

Natürlich hören die Freundschaften ja nicht auf, nur weil das Buch fertig ist. Die Lage der Flüchtlinge ist genauso schwierig wie vor drei Jahren, eigentlich noch extremer durch das lange Warten. Es gibt noch immer Termine bei Anwälten, Fristen für dies und das, Umzüge von Behelfsquartier zu Behelfsquartier und so weiter. Ich habe auch eine ehrenamtliche Vormundschaft für einen jugendlichen Flüchtling aus Gambia, der ohne Eltern hier ist, übernommen. Hoffentlich gibt’s später einmal auch Hochzeiten und Taufen zu feiern, und im Rückblick wären dann diese drei Jahre nur der problematische Beginn gewesen.

Sie beschreiben, eingewebt in die Romanhandlung, sehr detailliert und kenntnisreich das EU-Recht und die bürokratischen Hindernisse bei der Beantragung von Asyl in Deutschland. Sollten wir auf diese Hürden im Sinne des Mitgefühls verzichten?

So pauschal kann ich als Laie das nicht sagen. Aber was mir immer wieder klargeworden ist: Die Basis für den Umgang der hiesigen Behörden mit den Flüchtlingen ist eine grundsätzliche Haltung der Ablehnung. So ungefähr „Wie können wir jemanden möglichst lange aus dem System draußen halten?“ Und darin liegt meiner Meinung nach der Grundfehler. Warum können, wenn es 70 000 unbesetzte Lehrstellen gibt, nicht Wege gefunden werden, junge Menschen aus anderen Ländern dort auszubilden? Warum verbietet man jungen Menschen, die in Italien bereits als Flüchtlinge anerkannt sind, das Arbeiten in anderen europäischen Ländern? Wie sollen sie denn hier überleben? Und warum überhaupt glauben wir, dass es uns gut gehen darf, andere aber Krieg und Elend aushalten müssen? Warum dürfen die Konzerne sich frei über den Planeten bewegen, aber nicht die Menschen?

Nun nimmt Deutschland täglich viele Menschen auf. Selbst wenn es finanziell und logistisch möglich ist, die Flüchtlinge auf längere Sicht zu integrieren, bleibt die Frage: Was ist mit der unterschiedlichen Kultur? Wie soll künftig das kulturelle Zusammenleben Ihrer Meinung nach gelingen?

Ich persönlich habe den Zuwachs an kulturellen Erfahrungen für mich durchweg als Bereicherung empfunden. Aber auch wenn es nicht jedem so geht, können doch kulturelle Unterschiede bestehen, ohne dass immer gleich eine Front gemacht werden muss. Aggressive Ablehnung zieht immer Trotz und Zorn nach sich, das sieht man schon bei der Erziehung von Kindern. Friedlich miteinander zu leben, will gelernt sein. Und irgendjemand muss ja damit anfangen.

Sie stehen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Wenn Sie gewinnen sollten, werden Kritikerstimmen sagen, dass dies vorrangig der politischen Aktualität des Romanstoffes geschuldet ist. Wie würden Sie damit umgehen?

Schultern zucken. Und mich trotzdem freuen.

Das Gespräch führte Grit Weirauch

Jenny Erpenbeck liest heute um 19 Uhr in der Stadt- und Landesbibliothek, Am Kanal 47, aus ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen. Eintritt: Acht Euro

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