Kultur: Das Gewicht ganz anders spüren
Die „fabrik“ bietet kostenlose Kursstipendien an und öffnet auch Bedürftigen den Weg zum Tanz
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Tanz kann ein Geschenk sein. Eines, das nach dem Auspacken immer schillernder wird und erst im Gebrauch seine vielen Facetten entfaltet.
Seit vergangenen Sommer wartet die „fabrik“ mit einem neuen Angebot auf: mit kostenlosen Kursstipendien, die auch Bedürftigen den Weg zum Tanz öffnen. Nach einer Ausschreibung wurden fünf Erwachsene und fünf Kinder ausgewählt, ein ganzes Jahr einen Kurs ihrer Wahl zu belegen. Ein Angebot für Menschen, die den Tanz als Geschenk begreifen, ihn sich aber nicht immer leisten können.
Wie die sechsjährige Ottilie. Sie kennt die „fabrik“ bereits seit fünf Jahren. Anfangs kam sie mit ihrer Mutter Annegret in den Eltern-Kind-Kurs. Die beiden hatten viel wegzutragen. Als Ottilie geboren wurde, erkrankte die Mutter so schwer, dass sie sich nicht um das Neugeborene kümmern konnte. Das kleine Mädchen igelte sich ein, kompensierte die „Leerstelle“ mit Ablehnung. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Tanz ein Stück unseres Heilungsprozesses werden könnte“, sagt Annegret heute. Obwohl viele andere in der Gruppe dabei gewesen seien, wurde vor allem die Nähe und Geborgenheit zwischen Mutter und Kind beflügelt. Annegret lernte, das Gewicht ihrer Tochter anders zu spüren und sie „fliegen“ zu lassen: ganzheitliche Sichten, die die Mutter mit in den Alltag übernahm.
Nach dem Eltern-Kind-Kurs wechselte Ottilie in einen Kinderkurs, Annegret entdeckte den Modern Dance für sich. Ohne Kind wäre sie nie auf den Ort der „fabrik“ und die Möglichkeit des Tanzes gestoßen. „Der Kurs hat mich gefunden“, sagt sie über dieses große Geschenk, das jetzt in dem Stipendium für die Tochter gipfelte. Annegret hätte es sich nicht leisten können, weiter für die Tochter den Kurs zu bezahlen. Durch die Krankheit hat sie immer wieder finanzielle Ausfälle.
Ottilie fand in dem Tanzkreis der Kinder ihren sicheren Platz und eine Position, die sie auch ständig verändern kann. In dem Konzept der Kinderkursleiter Kathi und Ludovic Fourest geht es nicht darum, nach einer feststehenden Choreografie zu tanzen, sondern Räume für sich zu gewinnen, Rhythmen auszuleben und sich in wiedererkennbaren Strukturen Freiheiten zuzutrauen.
Die Studentin Anne hat ebenfalls ein Stipendium erhalten und sich aus den rund 30 Kursen „Modern Contemporary“ sowie „Stimme und Bewegung“ ausgesucht. Sie tanzt seit fünf Jahren beim Hochschulsport der Universität Potsdam und wollte nun weitere Stile kennenlernen. Als künftige Lehrerin für Spanisch und Englisch möchte sie selbstbewusster im Umgang mit ihrer Stimme und ihrem Körper werden, die sie als Einheit betrachtet. Früher habe sie Tanz nur mit Ballett assoziiert, jetzt weiß sie, wie breitgefächert zeitgenössischer Tanz ist und wie er die eigene Körperwahrnehmung unterstreichen kann. Unverdrossen macht sie deshalb auch unter ihren Kommilitonen Werbung für die Kurse der „fabrik“.
Die werden inzwischen von rund 250 Teilnehmern pro Woche wahrgenommen. „Ein Bereich, der sehr gewachsen und stabil geworden ist“, sagt Christin Cammradt von der „fabrik“. Als sie vor zwei Jahren die Honorare für die Lehrer und damit auch die Gebühren erhöhten, merkten die Mitarbeiter auch, dass nicht mehr jeder Zugang zur Bewegung fand. Auch bestimmte Ermäßigungen reichten nicht, um finanzielle Engpässe auszugleichen. So kam es zur Idee der Kursstipendien. „Aus 20 Bewerbungen mussten wir zehn auswählen, keine leichte Aufgabe. Doch die, die eine Zusage erhielten, überschütteten uns geradezu mit Dankbarkeit“, sagt Christin Cammradt. So wie Ottilies Mutter. Sie bringt nicht nur die eigene Tochter, sondern auch den kleinen Lukas mit zum Kurs, der im vergangenen Jahr seine Mutter verloren hat.
Christin Cammradt wartet jetzt auf die nächsten Bewerber für die Stipendien ab kommenden Sommer und schaut bei der Auswahl auf die ganz individuellen Geschichten. Und nicht nur der Hartz 4-Empfänger kann zu denen gehören, für die Tanzen ein Geschenk wird. Heidi Jäger
Weitere Informationen zu den Stipendien unter www.fabrikpotsdam.de
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