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Tourmüde. Hans Weingartner (r.) und Peter Schneider im Thalia

© Manfred Thomas

Kultur: Das innere Kind

Ein leiser Hans Weingartner im Thalia-Gespräch

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Er wirkt verändert. Nicht äußerlich. Da gibt Hans Weingartner nach wie vor den sportiv coolen Typen mit Jeans und Kapuzenshirt und den wirr ins Gesicht fallenden Locken. Doch wenn er zum Publikum spricht, ist seine Stimme weich und leise. Immer wieder schaut er nach unten, die Augen fast geschlossen. Man spürt seine Dünnhäutigkeit, aber auch eine gewisse Erleichterung, als er am Freitag im Thalia über seinen neuen Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“ erzählt. Und er sieht müde aus an diesem letzten Abend der zehntägigen Werbetour, die ihn bis London und Moskau führte und viel Beifall und auch Tränen der Rührung einbrachte.

Anders als vor vier Jahren, als Weingartner im Filmmuseum seine Mediensatire „Free Rainer“ vorstellte und das Publikum frustgeladen und mit aufbrausender Schelte für die „Verblödungsmaschine Fernsehen“ schockierte, wirkt er jetzt fast introvertiert – wie der einsame Wolf in seinem subtil verstörenden, auch märchenhaften neuen Film (siehe PNN-Rezension vom 2. Februar). So wie die Hauptfigur Martin hat der hochbegabte, radikale Regisseur der Kinoerfolge „Weißes Rauschen“ und „Die fetten Jahre sind vorbei“ bodenlose Tiefen durchschritten. Nach dem Flopp von „Free Rainer“ und 400 000 Euro Schulden bekam er ein „kleines großes Burnout“, wie er im gut besuchten Thalia bekennt. Und so ist dieser Martin, der Mathematiker auf Karrierekurs, der plötzlich ausgebrannt von einer Depression überwältigt wird und nach der Entlassung aus der Psychiatrie gebrandmarkt seine Arbeit verliert, eine authentische Figur, die wohl auch viel über das eigene Straucheln des Regisseurs erzählt. Wie Martin saß Hans Weingartner lange Zeit allein in seiner Wohnung und fragte sich: Wie soll es weitergehen? Er kam schließlich auf die Idee, einen Gerichtsvollzieher zu begleiten. Eine „herzzerreißend schlimme Erfahrung, zu sehen, wie Menschen, die schon ganz unten sind, auf die Straße geworfen werden.“ Und dieser Gerichtsvollzieher ist nun auch in seinem Film zu sehen, so wie auch die handgreiflich werdenden Polizisten alle echt seien.

Für die Hauptrolle des Aussteigers Martin hat der gebürtige Österreicher den Leipziger Schauspieler Peter Schneider („Berlin Calling“) gewonnen, der ebenfalls beim Filmgespräch dabei ist. Es fällt im ersten Moment schwer, in dem fast unscheinbar wirkenden jungen Mann diesen Martin zu erkennen, der einen eben noch auf der Leinwand in Atem hielt: mit der zerfetzten Seele des Gestrauchelten, der auch mit seinen Zahlenkolonnen die Welt nicht mehr bändigen kann. Und der, genährt durch die Freundschaft zu einem kleinen Jungen aus der Ukraine, dagegen aufbegehrt. Wir sehen, wie die beiden Ausgestoßenen im Wald ihre Laubhütte bauen, glücklich unter dem Baldachin säuselnder Blätter, dem Druck des normalen Wahnsinns der Gesellschaft entkommen. Eine Utopie, die auf die Härten der Realität trifft.

Und da setzt auch die Kritik einiger Zuschauer an, die bezweifeln, dass in der Wirklichkeit mit psychisch kranken Menschen so schonungslos umgesprungen wird, wie im Film gezeigt. Weingartner verteidigt seine Darstellungsweise, beruft sich auf eine Statistik, wonach zwei Drittel aller Obdachlosen psychische Defekte haben. Ein mitwirkender Polizist habe ihn gefragt: „Willst du es haben wie in echt oder wie im Fernsehen?“ Weingartner will jedoch lieber über die eigentliche Botschaft seines Filmes reden: über Nächstenliebe und das eigene innere Kind, zu dem immer weniger Menschen im Kontakt stünden. „In all den Normen und Abhängigkeiten verlieren wir uns selbst.“ Auch Peter Schneider trieb diese Frage um, als er seine Figur formte und in einer Psychiatrie mit Depressiven redete, um die dunklen Seiten und Träume seiner Figur zu entwickeln. Anders als Martin würde er sich nicht in den Wald zurückziehen. „Wichtig ist es, die Kraft zu haben, ein soziales Umfeld zu erhalten, empathisch zu bleiben“, so der sehr präsente Schauspieler.

„Vielleicht hilft nur der Generalstreik, um den Kapitalismus aufzuhalten. Wenn keiner mehr Kohle in die Lok schüttet, vielleicht bleibt sie dann stehen“, hofft Weingartner, sich skeptisch die Haare raufend.

Wird der studierte Gehirnforscher wieder in die Wissenschaft zurückkehren? „Mal gucken“, antwortet er vage. „Alle wollen Kommerz und Komödie. Ich bin schon ein bisschen müde.“ Und er verabschiedet sich: „Bis zum nächsten Mal in drei Jahren“. Hoffentlich. Heidi Jäger

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