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Von Klaus Büstrin: Das Kino, der Nachbar

Ganz persönliche Erinnerungen an die gute alte Kinozeit im Alten Krug Nach der Aufführung musste das Thälmann- Lied angestimmt werden

Stand:

Nebenan war der Alte Krug. Nur wenige Schritte entfernt von Zuhause. In der Bornstedter Ribbeckstraße. Der große Saal war in den fünfziger Jahren hin und wieder ein Ort für Aufführungen des Hans Otto Theaters, Tanzabende oder Konzerte des Bornimer Männerchors. Freitags war Kino angesagt. Nachmittags und abends. Die Ortskinder fanden sich gleich nach dem Schulunterricht an der Gaststätte ein. Nur keinen Film versäumen und die besten Plätze ergattern. Ja, der Raum war dann zumeist gefüllt mit Potsdamer Vorstadtkindern. Und manchmal kamen auch Mütter und Großmütter in die Nachmittagsvorstellung. Die schön geschwungenen Thonet-Stühle luden zum Sitzen ein. Und wenn sie nicht reichten, wurden Gartenstühle geholt.

Tagelang machten die bunten Plakate am Alten Krug neugierig auf das kommende Filmereignis. Und dann kam der Filmvorführer mit seiner Apparatur „angereist“. Immer erst kurz vor Vorstellungsbeginn. Niemand durfte ihn beim Aufbauen stören. Alles ging ganz bedächtig zu. Auf die letzte Minute wurde man in den Saal gelassen. 25 Pfennige kostete der Spaß. Ein Trubel, ein Kreischen. Ruhe kehrte erst ein, als man die Fensterläden schloss, das Licht löschte und die ersten Bilder auf der Leinwand sichtbar wurden. Bei den Pubertierenden konnte man im Dunkeln auch eine gegenseitige heimliche Annäherung beobachten, was natürlich von den Jüngeren entdeckt und mit Gelächter quittiert wurde. Helmuth Karasek wies in seinem Kino-Buch auf die schöne Geschichte von „Ninotschka“ im Jahre 1939 in Long Beach hin. Da soll ein Besucher auf einem Fragebogen geschrieben haben: „Der Film war so komisch, dass ich in die Hand meiner Freundin gepinkelt habe.“

Tschechische und sowjetische Märchenfilme gab es zu sehen, aber auch Stoffe aus der russischen Oktoberrevolution bestimmten das Programm. Als Zehnjähriger war man noch Feuer und Flamme: Lenin und Genossen kämpften für eine gerechte Sache in der Welt, ohne Ausbeutung. Und darin hatte der Zar keinen Platz mehr. Eines Tages wurde der Film „Die Störenfriede“ angekündigt, einer, der in den Babelsberger Defa-Studios gedreht wurde. Ein Pionierfilm, der für die „unartigen“ Kinder den erhobenen Zeigefinger parat hielt und mit einem grässlichen „Papierdeutsch“ aufwartete. Die sympathische und hübsch aussehende Schauspielerin Sonja Haacker, die die Pionierleiterin Ellen Hellberg spielte, konnte den Zuschauer-Frust für diesen Film in einem anschließenden Gespräch im Alten Krug nicht mindern. Die Klassenlehrerin ärgerte sich über das Desinteresse der Schüler. So wurden sie lautstark zum Schreiben eines Aufsatzes im Deutschunterricht verdonnert. Thema: Welchen Einfluss haben die Filme unserer Deutschen Demokratischen Republik auf die schulischen Leistungen der Jungen Pioniere?. Manche schrieben heftig ein paar Sätze ins Heft, andere waren gelangweilt, Wolfgang zeichnete Figurinen. Die Frage der wütenden Lehrerin nach dem Warum, beantwortete er selbstbewusst: „Fräulein Hellberg braucht ein paar neue Kleider.“ Eine Fünf war dafür der Lohn. Am nächsten Tag stürmte Wolfgangs Mutter Charlotte in die Schule und stellte die Lehrerin zur Rede. Man hörte sie abschließend noch sagen: „Ihre Defa-Filme können Sie sich zukünftig an den Hut strecken.“

Aber in diesem Falle hatte sie Unrecht. Beispielsweise kannte sie wohl die Filme „Das kalte Herz“ oder „Die Geschichte vom kleinen Muck“ nicht. Die sind natürlich von anderem Kaliber als „Die Störenfriede“. Auch in diesen Defa-Filmen wurden die Bösen bestraft und die Guten belohnt. Aber ohne Schwarz-Weiß-Malerei. Längst gehören sie zum „goldenen Fonds“ deutscher Märchenfilme. Und man staunt noch heute über die wunderbaren Trick- und Landschaftsaufnahmen. Vor Erwin Geschonnecks Visage und Darstellung des Glasaugen-Holländer-Michel in „Das kalte Herz“ konnte man regelrecht Angst bekommen. „Aber woher sollte man ein Glasauge nehmen“, schreibt Geschonneck in seiner Autobiografie „Meine unruhigen Jahre“. „Und da hab ich mir eine Haftschale einsetzen lassen, die weiß angestrichen war. Dadurch wurde ein Auge tot. Ich habe versucht, mein Gesicht hässlich zu machen Wenn ich mich heute sehe, finde ich, dass wir damals eine ganz gute Maske hingekriegt haben.“

Eines Tages wurde die gesamte Schule, Schüler und Lehrer, verpflichtet, die Ernst-Thälmann-Filme von Kurt Maetzig in Augenschein zu nehmen. Wieder auf den harten Thonet-Stühlen des Alten Krugs, der sich nun Kulturhaus „Karl Liebknecht“ nannte, eine Einrichtung, die zeit „ihres Lebens“ vor sich hin dümpelte. Das Pathos der Filme konnte bei den jüngeren Schülern noch viel Eindruck machen. Besonders das Schicksal von Änne und Fiete beschäftigte uns mehr als der ständig die Faust schwingende Arbeiterführer. Einige Ältere, beispielsweise der Pfarrerssohn und seine Freunde, standen der propagandistischen Machart der Filme kritisch gegenüber. Das war in den Pausen immer wieder zu hören.

Unser Klassenlehrer Herr F. wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Neulehrer. Er erlebte das nationalsozialistische Deutschland in all seinen teuflischen Facetten und wurde ein überzeugter Kommunist. Mit Tränen in den Augen erlebte er das Thälmann-Geschehen auf der Leinwand. Morgens ließ Herr F. zum Unterrichtsbeginn immer ein Lied von den Schülern singen: Hoch auf dem gelben Wagen und ähnliche. Nach der Filmaufführung musste das Thälmann-Lied mit dem Refrain „Thälmann und Thälmann vor allem, Deutschlands unsterblicher Sohn“ angestimmt werden. Eine ganze Woche bestimmte die Hymne den schulischen Tag.

In den Tageszeitungen war nach dem Thälmann-„Fieber“ eine Annonce zu lesen. Die Defa suche aufgeweckte Kinder im Alter von zehn bis dreizehn Jahren für den Film „Das Traumschiff“. Als Hauptdarsteller wurde Günther Simon, der kurz zuvor den Arbeiterführer verkörperte, genannt. Neben Simon auf der Leinwand! Auf nach Babelsberg! Die Enttäuschung war aber groß. Hunderte interessierte Kinder nahmen am Casting teil. Also musste es aufgeweckte Jungen noch mehr geben. Ohne Rolle wurde man wieder nach Hause geschickt. Adieu Filmkarriere.

Im Kulturhaus nebenan gab es ab Ende der fünfziger Jahre kein Kino mehr. Die Bornstedter mieden die Vorstellungen. Man wollte in der Filmwiedergabe endlich mehr Qualität erleben. Das laute Surren der Vorführgeräte konnte recht nervenaufreibend sein. Also machte man sich von nun an auf in die Potsdamer Filmtheater: ins Obelisk, Melodie oder Charlott. Diese heimeligen Kiez-Kinos hat man aber längst abgeschafft.

Die Schriftstellerin Dorothee Goebeler schrieb in den zwanziger Jahren einen Text über die Kinostadt Potsdam. „Es wird viel gefilmt in Potsdam. Unsere Kinoleute wissen, was sie an der Havelstadt haben. Sie gibt Hintergrund für alle möglichen, ja man möchte auch sagen, auch noch für die unmöglichen Gelegenheiten.“ Nebenan im Park Sanssouci konnte man ebenfalls immer wieder Filmleute bei Dreharbeiten beobachten. Auch auf der Mopke am Neuen Palais. Unter anderen Szenen zu „Minna von Barnhelm“. Allerlei Volk sollte mitspielen, jung und alt. Es fehlten aber noch einige Kinder. Dem vorübergehenden Jungen aus Bornstedt wurde plötzlich angeboten, in ein Kostüm des 18. Jahrhunderts zu schlüpfen. Für einige Stunden. Sogar Geld würde es geben. Aber nur hinter den friderizianischen Soldaten hinterher laufen? Als Masse? Nein. Das ist keine Rolle, auf die man wartet.

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