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POSITION: Das Märchen vom Schneewittchen

Eine zeitgemäße Nachweihnachtsgeschichte aus dem Filmmuseum Potsdam Von Bärbel Dalichow

Stand:

Ein nachgereichtes Weihnachtsmärchen ist immer willkommen. Der Anfang soll vielversprechend sein, die Mitte fesselnd, das Ende rosarot. Alles wird gut – die Botschaft stärkt, macht uns froh und hilft gegen niederdrückende Miesepeter.

Das Potsdamer Filmmuseum hat an jedem Jahresende solche Geschichten erzählt, sich mit Erfolgen gebrüstet und dem Land Brandenburg alle Ehre gemacht. Auch 2009 könnte es wieder so klingen: mehr als 80 000 Besucher, eine Steigerung um 15 Prozent, schöne Ausstellungen, hochgelobte und tief lotende Kino- und Veranstaltungsprogramme. Die Welte-Orgel hatte 80. Geburtstag und neben Stummfilmkonzerten gibt es eine neue Publikation zu ihrer Geschichte. Illustere Gäste von Roman Polanski im Januar bis Jörg Schüttauf im Dezember ließen das Museum stundenweise an ihrem Charisma teilhaben. Die Sammlungen sind reicher geworden. Sogar das Medienecho kann man sich besser kaum wünschen: überregionale Berichte, nicht nur zur Sandmann-Ausstellung und sogar im chinesischen und französischen Fernsehen – welche Kultureinrichtung unserer Stadt oder unseres Ländchens, außer der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, kann sich dessen rühmen? Und so weiter und so fort – Jahresende gut, alles gut.

Aber hinter den mit weißbunten Sandmannbildchen gleich einem tibetanischen Kloster geschmückten Kulissen des Marstalls sieht es wie bei vielen Unternehmen, Institutionen, etc. deutlich anders aus. Am Anfang war das Verhältnis zwischen der Institution und ihrem Lehnsherrn wunderbar, wie bei Schneewittchen als sie noch ganz jung war und ihre leibliche Mutter noch lebte. Das Museum gehört zum Land Brandenburg, das sich seiner Medienindustrie rühmt, für deren historische Tiefenschärfe es zuständig ist – seit fast zwei Jahrzehnten. In den frühen 1990er Jahren konnte man eben mal rasch zum Ministerium hinüberlaufen, ohne vorher einen Termin auszumachen, und mit einem der Verantwortlichen über eine neue Idee und ihre Chancen phantasieren, gemeinsam wohlgemerkt. Und dann wurde gehandelt. Sofort. Man konnte mit Finanzministern plaudern, die sich allen Ernstes für die Programme interessierten und nicht nur dafür, dass das Museum vorschriftsmäßig wirtschaftete. Überall gab es einen offenen Ton und Wohlwollen für das Gedeihen des lebhaften Kulturkindes.

Wie sich diese liebevolle Mutter in eine kaltherzige Stiefmutter verwandelt hat? Unmerklich, wie in einem perfiden Alptraum. Auch die meisten anderen Akteure, Player genannt oder Unternehmer, Auftragnehmer, Dienst- und Fachaufsicht, Förderer und Vertragspartner, wandelten sich. Und beinahe alle in die gleiche Richtung. Geld hat Priorität. Überall weniger Leute, die passend zu den Kommunikationsmaschinen immer mehr arbeiten müssen, schnell und noch schneller. Mehr Anordnungen. Mehr Nackenschläge. Weniger Kooperation. Keine Solidarität. Der Umgangston ist schnöde geworden, das Klima kalt. Es geht also ganz offenbar um eine gesellschaftliche Tendenz, die alle Einwohner des Planeten „schneller, höher, weiter“ so lange mit antrainiertem Lächeln überspielen, bis sie finanziell, organisatorisch oder sogar psychophysisch kollabieren. Pleiten von Unternehmen, Städten, Individuen. Druck von allen Seiten, expotenziell steigende Erkrankungsraten, die auf Überforderung weisen, sogar in unserem reichen Landstrich. Stirbt ein Fußballer, schwören alle Besserung, am selben Tag geht es weiter wie zuvor.

Und Schneewittchen in Potsdam? Verschönert Zwergenland (Sandmann-Ausstellung, Kinderkino), richtet an (Veranstaltungen, Ausstellungen, Filmabende), ist so lange gastfreundlich zu jedermann, obwohl der Gürtel sie abschnürt. Fortschreitende Atemnot: In den Etats des Museums gibt keinen Inflationsausgleich, seit 1999 fehlen schon fast 25 Prozent.

Das Leben ist grausam. Wie die Märchen. Im Märchen benutzt die Stiefmutter beim zweiten Anschlag einen harmlos wirkenden Kamm, der in Schneewittchens reichem Haar kaum zu entdecken ist. Der vergiftende Kamm ist bereits gesetzt, präpariert mit einem langsam wirkenden, lähmenden Nervengift. Weil das Land Brandenburg selbst arm ist, sollen ausscheidende Angestellte möglichst nicht ersetzt werden. Besser als bei Unternehmen, die Hunderte von heut auf morgen ins Aus schicken, kann man sagen. Aber in Paris streiken die Museumsangestellten, weil es jeden zweiten betreffen soll, jedoch in Puritanien jammert man unhörbar und steckt wehrlos ein.

Auswirkungen zeigen sich überall. Noch ein einhalb Mitarbeiter betreuten 2009 die Gäste der Ausstellungen im Marstall, an 362 Tagen! Das geht überhaupt nicht. Führungen und Schülerprojekte mit tausenden Teilnehmern hegt eine einzige Museumspädagogin, die neuerdings auch noch gleichzeitig das Sekretariat im Blick behalten und als Vertretung in der Kasse sitzen muss. Nur ein Beispiel, es gibt mehr davon. Auf der Gegenseite zerren staatliche Arbeitsvorschriften, die eingehalten werden müssen – der öffentliche Dienst ist ja ach so sozial. Den wackligen Balanceakt kann man Flexibilität oder gute Arbeitsorganisation nennen. Wie wäre es mit: katastrophale Bedingungen.

Weniger machen? Ja. Aber! Wir leben in einer Welt des Wettbewerbs. Ein Museum, das sich nicht um seine jungen Gäste, die Individualbesucher von morgen, kümmert, seinem Bildungsauftrag nicht nachgeht, nicht wirbt, keine Partner findet, hat schon verloren. Sollen wir das Sammeln aufgeben, das Forschen, das Publizieren, das Ausstellen, die Veranstaltungen im Kino, die das audiovisuelle Erbe mit den jüngsten Produktionen verbindet und das Museum mit den Filmemachern der Gegenwart? Wie vom Deutschen Museumsbund gefordert, wurden alle Bereiche miteinander verknüpft und fein verwebt. Zieht man einzelne Fäden heraus, geht bald das ganze Gewebe kaputt. Das Zerstörungswerk hat schon begonnen. Privates Sponsoring soll es richten, sagt die Stiefmutter. Dabei gibt sie selbst und ihre mächtigen Verwandten Steuerzahlers Milliarden an Privatunternehmen weiter, die ihrerseits nicht daran denken, etwas zurückzugeben.

Von der angeschlagenen Tochter fordert die ebenfalls angeschlagene Stiefmutter nur, lobt nie. Zwar gibt es eine Kulturentwicklungsplanung der Landesregierung 2009, in der das Museum rundherum gut da steht, aber in Wahrheit geht es nur noch darum, dass es mit weniger und noch weniger Leuten seinen Auftrag erfüllen, sparen soll wie alle. Wie? Das interessiert niemanden. Nun muss das Museum ab Januar einen Schließtag einführen. Ergebnis: Planungsaufwand und Kosten sinken im Gegensatz zu den Einnahmen nicht, nur die Ausstellungsbetreuung kann vorübergehend irgendwie gesichert werden.

Erst beim dritten Mal gelingt der Anschlag auf Schneewittchen (und andere Märchenfiguren, respektive Kunst- und Kulturveranstalter), eine rotbackige Apfelhälfte wird ihr zum Verhängnis und die Zwerge weinen am gläsernen Sarg. Im nächsten Jahr oder im übernächsten? 2009 hinterlässt das fleißige Schneewittchen tapfer aber ratlos, weil sie nicht versteht, warum man ihr ans Leben will. Kommt irgendwann der Prinz? Oder reicht ein Prinz heutzutage gar nicht mehr fürs gute Ende?

Bärbel Dalichow ist Leiterin im Filmmuseum Potsdam

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