Kultur: Das Verschwinden sichtbar machen Ein Gespräch über das Erinnern in der Kunst
Auf den ersten Blick erscheinen Anne Heinleins Fotografien fast unscheinbar: Wiese neben Gestrüpp, umrahmt von Bäumen, mal kahl-knochig, mal mit vollem Blatt. Doch etwas an den Schwarz-Weiß-Bildern zwingt zum zweiten Hinsehen – und dann ist es schon zu spät.
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Auf den ersten Blick erscheinen Anne Heinleins Fotografien fast unscheinbar: Wiese neben Gestrüpp, umrahmt von Bäumen, mal kahl-knochig, mal mit vollem Blatt. Doch etwas an den Schwarz-Weiß-Bildern zwingt zum zweiten Hinsehen – und dann ist es schon zu spät. Das Auge verirrt sich in ihren scheinbar banalen Landschaftsaufnahmen, räkelt sich im Gras und raschelt im trockenen Laub. Das allein gäbe den Fotos schon ihre künstlerische Berechtigung, doch hinter Heinleins Aufnahmen steckt noch viel mehr als nur die abgebildete Landschaft. Sie sind auch Zeugnisse verschwundener Güter, sogar ganzer Dörfer, die an der ehemaligen Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik dem Erdboden gleich gemacht wurden. Wüstungen nennen sich solche Orte, von denen heute höchstens noch Mauerreste oder vereinzelte Toreinfahrten übrig sind. Am Donnerstag sprach Anne Heinlein gemeinsam mit Schriftstellerin Julia Schoch in der Gedenkstätte Lindenstraße darüber, was sie am Verschwinden fasziniert und inwiefern Grenzen etwas damit zu tun haben.
Beide Künstlerinnen sind in den letzten Jahren der DDR aufgewachsen, die Begrenzungen durch die deutsche Teilung haben sie noch bewusst wahrgenommen. In ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ beschreibt Schoch eine junge Frau, die an dem Verschwinden der Grenzen zerbricht, Heinleins Bilder hingegen zeigen Orte, an denen die Grenze Menschen auseinandergerissen hat. In beiden Fällen bleibt jedoch etwas zurück, was die Frauen nicht losgelassen hat. „Mich trieb das Verschwinden lange Zeit um, inzwischen ist das aber auch schon wieder anders“ so Schoch. „Dabei stellte sich natürlich die Frage, wie lässt sich davon erzählen.“ Es sei auch durchaus möglich, dass die Leser ihre Geschichten ganz anders auffassen, eine Lesart in die Texte lesen, die nichts mit Grenzen oder der DDR zu tun hat. Ähnlich geht es auch Anne Heinlein mit ihren Bildern. „Durch das Wissen über den Kontext entsteht eine Aura, aber Kunst sollte natürlich auch ohne funktionieren“, so die Potsdamer Künstlerin. Trotzdem sammelt sie im Zuge ihres Fotoprojektes gemeinsam mit ihrem Mann Göran Gnaudschun Informationen zu den verlassenen Dörfern in Archiven, spricht mit Zeitzeugen und stellt ihren Fotografien historische Bilder der Orte gegenüber. „Auch wenn man durchaus vergessen darf, finde ich dennoch, dass an diese Geschichten erinnert werden sollte“, sagte sie. „Gerade im Gespräch mit den Zeitzeugen kommen ganz unterschiedliche Individualschicksale ans Licht. Auseinandergerissene Familien, aber auch glückliche, die neu anfangen konnten.“
Auch wenn aus dem gesamten Material im Januar nächsten Jahres eine Ausstellung in Berlin entstehen wird, ist es Heinlein wichtig, in den Gegenwartsfotografien keine Überbleibsel der Geschichte zu zeigen. „Die Bilder sollen eher Bühnen sein, die sich mit Geschichten füllen lassen“, sagte sie. Genauso wie Schoch vertritt sie die Meinung, dass Kunst immer nur einen subjektiven Ausschnitt zeigt, das Weglassen von Überflüssigem sei dabei ein wichtiger Faktor, um eine Essenz des Darstellbaren zu bekommen. Was diese Essenz genau ist, müsse am Ende jeder für sich entscheiden. sku
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