Kultur: Der Fall Nr. 20
Autor Andres Veiel und Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg stellten Buch über Potzlower Mord vor
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Zurückhaltung übte Erardo Rautenberg nicht. Er ließ Fakten sprechen, im sachlichsten Beamtendeutsch. Aus der Urteilsbegründung vom 24. Oktober 2003 las Rautenberg, brandenburgischer Generalstaatsanwalt, am Donnerstag bei der Buchvorstellung „Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt“ im Kutschstall. Drei junge Männer werden für den Mord an dem 16-jährigen Marinus Schöberl verurteilt, der in der Nacht zum 13. Juli 2002 nach stundenlangen Misshandlungen von einem der Täter in einem ehemaligen Schweinestall durch den so genannten „Bordsteinkick“ zu Tode getreten wurde.
Rautenberg setzte mit seinen einleitenden Worten an diesem Abend dort ein, wo die meisten Berichte über den Mord in Potzlow, einem Dorf in der Uckermark, enden: Bei den Auswirkungen des Sprunges mit beiden Füßen auf den Kopf von Marinus Schöberl. Auch Andres Veiel verzichtet in seinem Buch auf diese medizinischen Details, die einem fast bis zur Unerträglichkeit die Brutalität dieses Verbrechens bewusst werden lassen.
Veiel hat nach dem Mord in Potzlow recherchiert und mit den Leuten gesprochen. Daraus entstand das Theaterstück „Der Kick“, später kam der gleichnamige Film hinzu. Doch nach Theaterstück und Film waren für Andres Veiel noch immer zu viele Fragen unbeantwortet geblieben, wie er am Donnerstag in Potsdam sagte. Für neun Monate ging Veiel zurück nach Potzlow um zu verstehen, was eigentlich nicht zu verstehen ist: Wie konnte es zu so einem grausamen Mord unter Jugendlichen kommen? Entstanden ist das Buch „Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt“, das Ende Februar erschienen ist.
Bei der Arbeit zu seinem Buch wurde Andres Veiel auch von Generalstaatsanwalt Rautenberg unterstützt. „Selten habe ich ein Buch gelesen, das bei mir eine so starke innere Bewegung ausgelöst hat“, sagte Rautenberg, der den Mordfall, in seiner eigenen Kartei rechtsextremistischer Gewalttaten in Brandenburg mit der Nummer 20 registriert, bis ins Detail kennt. Es sei das Verdienst des Autors, so Rautenberg, dass er sich ohne eine vorgefasste Meinung an die Spurensuche machte.
Anhand von Interviews, den Biographien der Täter und des Opfers, einer detaillierten Beschreibung wie es zur Tat kam und Analysen, die die Erfahrungen der Einwohner von Potzlow bis zurück zur Zeit des Nationalsozialismus und deren mögliche Folgen auf die späteren Generationen untersuchen, hat Veiel eine beklemmende Studie über das Versagen auf vielen Ebenen geschrieben. Es sei nicht sein Anliegen, Lösungsstrategien zu liefern, sagte Veiel. Ihm gehe es um die Ursachen, inwieweit Rechtsextremismus, zu dem sich die Täter bis heute bekennen, ein „Symptom“ für solche Gewalt sein kann. Was Andres Veiel während seiner Recherchen erkennen musste, war ein „Vakuum“ auf vielen Ebenen. Ob im Elternhaus, in der Gemeinde, in der Schule oder in der Ausbildung, nirgends seien die eindeutigen Signale der Täter – ihr rechtes Outfit, der Alkohol, die Drogen und die eigenen Gewalterfahrungen – erkannt und dementsprechend gehandelt worden. Prävention statt Reaktion sei hier vonnöten, wie es auch in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum mehrfach gefordert wurde. „Diese Arbeit braucht Geld und dieses Land hat viel Geld. Es kommt darauf an, wo wir es einsetzen“, sagte Andres Veiel am Schluss.
Die Stelle für die Jugendsozialarbeiterin in Potzlow hat das Land Brandenburg Monate nach der Tat aus Kostengründen gestrichen. Ein privater Investor finanziert jetzt diese, so dringend notwendige Arbeit. Dirk Becker
Andres Veiel: Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt, Deutsche Verlags-Anstalt München 2007, 288 Seiten, 14,95 Euro
Dirk Becker
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