
© Andreas Klaer
Kultur: Der Kanal wird geflutet
Localize füllt am Wochenende den Stadtkanal mit Musik, Kunst und Kuchen
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„Kein Trinkwasser“ steht auf dem blauen Schild am Kopfende des Stadtkanals – obwohl er wahrscheinlich weltweit der einzige Kanal ist, der regelmäßig gemäht wird. Doch laut Anordnung des Ordnungsamtes darf diese Mahnung keineswegs zugehangen werden. Das respektieren die Localize-Kanalarbeiter, wenn sie sich am Wochenende in das 300 mal 12 Meter lange, aus Naturstein gepflasterte, trockene Kanalbett begeben. Sie fügen sogar noch ein paar Verbots- und Achtungsschilder hinzu. „Vom Beckenrand springen verboten“ oder „Achtung Krokodile“ heißt es dann auf den in Folie geschweißten Warnungen der Potsdamer Künstlerin Anja-Claudia Pentrop. Natürlich geht es bei der Flutung dieses verwaisten Ortes, der nur zum Kanalsprint Ende August drei Tage im Jahr mit Trinkwasser (!) gefüllt wird, nicht um preußische Ordnung und Disziplin. Bunt und verrückt, mit einem reißenden Strom ausgefallener künstlerischer Ideen soll er gefüllt werden. Neun Künstler holte sich das sechsköpfige Localize-Organisationsteam unter der Leitung von Anja Engel an die Seite.
Sie wollen gegen die offensichtlich selbst auferlegte Disziplin der Potsdamer Sturm laufen. Denn warum breitet bislang niemand seine Decke auf diesem wildgewachsenen Gras-Klee-LöwenzahnTeppich aus oder spielt Gummihopse und Feuerball? Nirgendwo gibt es ein Schild: „Zugang verboten“. Dennoch traut sich bislang kaum einer die schmalen Treppen hinab in diese Innenstadt-Lücke. Geschichtsstudent Peter Degener wagte es: Er lud im vergangenen Jahr per Flashmob – einem Aufruf im Internet - zum Baden ein. Bis in den Morgen schwammen nicht nur Anwohner begeistert ihre Bahnen, auch viele Jugendliche kühlten dort in der heißesten Nacht des Jahres nach dem Kanalsprint ihre Gemüter. Ein Mitternachtsbaden mit Folgen. Denn Peter Degener hatte den Kanal noch lange nicht voll. Als Localize-Vereinsmitglied ließ er seine Begeisterung nun in das Kanalarbeiter-Projekt überschwappen. Und er wird als Stadtführer auch selbst Vorträge anbieten, die tiefer in den Kanal eintauchen. Irgendwann soll er ja wieder eine Gracht sein. Doch dafür muss noch anderthalb Meter tiefer gebaggert werden: denn wo heute das Gras wächst, war einst der Wasserspiegel. Und so soll es einst wieder werden.
Seit 1999 wird daran gebaut, aber niemand weiß, wann das Luxusprojekt fertig ist. Warum also weitere Jahrzehnte warten, bis der Kanal irgendwann zum Paradies für Paddler wird. Vielleicht verläuft ohnehin alles im Sande, wenn der Zufluss an Spenden versiegt. „Mit unseren Kanalarbeiten wird die Ebbe im Kanal jedenfalls zum Ausgangspunkt einer Wiedergewinnung“, sagt Anja Engel. Nicht abwarten, sondern aktiv werden: mit einer Kunstausstellung, einer Bühne, auf der sich drei Bands präsentieren, sowie mit einem Café und einer Bar.
Nichts darf dabei verändert werden in dem denkmalgeschützten Kanal. Also wird die Kunst gebunden, gelegt, gehängt – ohne nur einen Nagel in die Klinkerwand zu schlagen. Die ohnehin schon bestehenden Löcher werden vielmehr noch zugestopft. An der Bar gibt es Plastik-Bausteine, mit denen puzzleartig Lücken in bröckelnde Fassaden oder eben im Kanalwall geflickt werden können. Eine temporäre Stadtreparatur. Umso mehr mitmachen, um so bunter wird es, so die Idee von Jan Vormann, der sich kritisch mit zeitgenössischen Baustoffen wie Stahl, Beton und Glas auseinandersetzt.
Bereits am heutigen Donnerstag beginnt Martina Becker ihre amorphen „Einzeller“ zu füttern. Aus transparenten aufblasbaren Müllsäcken kreiert sie begehbare „Luftzeichen“. Sie assoziieren vielleicht einen Samenflug oder den Befall von Schimmel. Jedenfalls soll ihre lebenspralle Installation über die Ziegelmauer hinauswuchern. Der Ladebergsteg, die einzige Brücke über den Kanal in der Yorkstraße, wird Patricia Pisani zuschnüren, denn für sie hat eine Brücke nicht nur etwas Verbindendes, sondern auch Unterbrechendes. Ihre verknoteten Widerstände sind bei einigem Geschick aber durchaus überbrückbar. Besonders begeistert zeigen sich die Organisatoren von den aufblasbaren Medusen des Berliner Architekturbüros Plastique Fantastique. Die kreativen Köpfe aus aller Welt errichten keine dauerhaften Gebäude. Ihre Baustoffe sind Folien und Luft. Die daraus entstehenden Schöpfungen füllen Lücken und beleben Plätze: quallengleich nun auch den Kanal. Auch ihren 12 Meter großen Rettungsring werfen sie aus. Am gegenüberliegenden Ende türmen sich derweil die „Architektonen“ des Potsdamer Künstlers Tom Korn auf, der sonst aus Teppichresten der Ostmoderne huldigt. Nun greift er zu ausgemusterten Spanplatten und Euro-Paletten und baut drei Skulpturen daraus, die Bezug auf die aktuelle Diskussion um eine Kunsthalle sowie den sozialen Wohnungsbau in Potsdam nehmen.
Die Localize tritt in seinem nunmehr vierten Jahr ohne Beinamen „Heimatfest“ auf. Anders als die Jahre zuvor, als die überwiegend studentischen Organisatoren unzugängliche Orte begehbar machten, wie ein leer stehendes Haus im Holländischen Viertel oder die Bibliothek zwischen Auszug der Bücher und Beginn des Umbaus, ist der Kanal jederzeit offen zugänglich. Zudem wird der Fokus nicht mehr auf den Begriff Heimat gelegt, sondern auf die Bedeutung des Kanals als verbindendes oder trennendes Medium gelegt, so Anja Engel und Peter Degener.
Allein das undefinierbare Festival-Logo, das an Gletscherschmelze und unterirdische Ströme erinnert, suggeriert: Der Kanal ist kein schwarzes Loch. Da passt viel rein und kommt was raus.
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