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Kultur: Der Mauerfall als historische Zäsur

Der Umbruch von 1989 ist unbestritten einer der bedeutendsten Einschnitte in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Über die Wucht des Ereignisses, eine Revolution ohne Revolutionäre und ihre wundersame Gewaltlosigkeit.Von Martin Sabrow

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Der Mauerfall 1989 lässt sich als die historische Zäsur unseres Lebens beschreiben, als eine Zäsur von weltweiter Bedeutung. Wie selbstverständlich beginnt die aktuelle Ausstellung „Germany: Memories of a Nation“ im British Museum in London, die von Dürer bis Dresden, von Basel bis Königsberg reicht, „mit einem Video vom Abend des 9. November, mit dem schieren, noch ungläubigen Glück derer, die die mit einem Mal hilflos gewordenen NVA-Grenzbewacher beiseiteschieben“, wie ein Rezensent mit spürbarem Nacherleben des Wunders von 1989 schrieb.

Doch damit wir den Mauerfall so selbstverständlich als historische Zäsur unseres Lebens bezeichnen können, sind zwei Einschränkungen vonnöten: die erste, dass wir jung genug sind, um nicht die Zäsur von 1945 oder gar die von 1933 miterlebt zu haben, und die zweite, dass die Zukunft nicht zu unseren Lebzeiten noch grundstürzendere Einschnitte als den Zusammenbruch des SED-Regimes und das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit bereithält, von denen wir noch nichts wissen können oder deren Bedeutung wir bisher noch nicht angemessen erkannt haben. Niemand kann uns heute sagen, ob nicht morgen schon ein weltgeschichtliches Ereignis eintritt oder ein bereits vergangenes Ereignis an Bedeutung gewinnt, vor dem das mit dem Mauerfall verbundene Ende des Ost-West-Konflikts verblasst. Durch die Rückkehr des Kalten Krieges, zum Beispiel, könnte es das Moment der Endgültigkeit verlieren, das zu historischen Zäsuren dazugehört. Durch das Aufflammen noch tiefer einschneidender Ereignisse, noch umfassenderer Veränderungen könnte der 9. November 1989 auch seinen historischen Rang einbüßen – vielleicht hat er dies auch bereits am 9. September 2001, und wir haben es nur noch nicht realisiert?

Historische Zäsuren sind, wie sich hieran zeigt, einerseits unmittelbar einleuchtende Markierungen des Geschichtsverlaufs, andererseits aber auch durchaus vorläufig und nicht leicht fixierbar. Die Suche nach Zäsuren entspringt in der Moderne und ihrer linearen Zeitvorstellung dem Wunsch nach Ordnung des Zeitflusses. In der öffentlichen Wahrnehmung vollziehen sich bemerkenswerte Zäsurenwanderungen: So kehrte im deutschen Geschichtsdenken der lange ausgesparte Erste Weltkrieg in den vergangenen Jahren und Monaten vehement in die Zeitgeschichte zurück, deren Beginn sich damit vom Jahr der Russischen Oktoberrevolution 1917 auf den Weltkriegsausbruch 1914 als Beginn des „Zeitalters der Extreme“ verschiebt. Und das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933, das über Jahrzehnte seinen epochalen Rang als Fluchtpunkt des deutschen Sonderwegs markierte, scheint deutlich an Bedeutung gegenüber dem Datum 1941/42 verloren zu haben, das den Zivilisationsbruch betont und in dem die im Holocaust mündende Entgrenzung der Gewalt zum Völkermord und die Ambivalenz der Moderne sichtbar wird.

In dieser Reihe historischer Umbrüche ist die epochale Bedeutung des Mauerfalls 1989 unmittelbar augenfällig. „Niemand vergisst, wie ihn die Nachricht erreicht hat“, schrieb der Publizist Hermann Rudolph rückblickend mit Recht. Hüben und Drüben war „Wahnsinn“ das Wort der Stunde, um die Empfindung des historisch Unerhörten zum Ausdruck zu bringen. Auch im Abstand von 25 Jahren behaupten der 9. und 10. November ihre Frische als Moment, an dem die Weltgeschichte ihren Atem angehalten hat. In analytischer Distanz zeigt sich der Zäsurencharakter des Herbstes 1989 in der sich überschlagenden Wucht und Beschleunigung des historischen Ereignisstroms, der in Wochen und Tagen, manchmal Stunden wegschwemmte, was vordem auf Jahrzehnte unverrückbar festgefügt schien. Mit einem Male war Deutschland nach vierzig Jahren staatlicher Teilung zu einem Nationalstaat in anerkannten Grenzen verwandelt und damit erst der Zweite Weltkrieg endgültig Geschichte geworden.

Dass sich der europäische Kommunismus als einer der drei großen Ordnungsentwürfe der Moderne des 20. Jahrhunderts zwischen dem Mai 1989 in Ungarn und dem Sommer 1991 in der Sowjetunion zu einer weitgehend unblutigen und lautlosen Preisgabe seiner Macht bereit zeigte, überraschte Akteure und Beobachter, Täter und Opfer, Politik und Wissenschaft in einer solch einhelligen Weise, dass das „Wunder“ von 1989 zu den erklärungsbedürftigsten Geschehnissen der Zeitgeschichte zählt. Das Wunder im Wunder liegt dabei in der staunen machenden Gewaltlosigkeit, die den widerstrebenden und ungewollten Machtverlust eines kommunistischen Diktatursystems prägte, dessen hervorstechendstes Kennzeichen über vierzig Jahre hinweg die selbstmobilisierende Bereitschaft zur rückhaltlosen Gewaltausübung gewesen war und das sich in seiner stalinistischen Phase dem Terror in einer historisch unerhörten und nur dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch vergleichbaren Weise bedient hatte.

„Wie kommt es eigentlich, daß wir einfach so unsere DDR aufgegeben haben?“, fragte sich Erich Mielke noch 1993 fassungslos in einem Spiegel-Interview. Tatsächlich stellte die politische Opposition bis in den Sommer 1989 hinein zahlenmäßig in Bezug auf den Machterhalt keine imposante Größe dar: Die 150 Basisgruppen, 600 Führungsfunktionäre, 2400 Aktivisten und 60 unbelehrbare Feinde des Sozialismus, die das MfS in seiner Gegnerübersicht in dieser Zeit auflistete, konnten einem gegen den inneren Feind hochgerüsteten Staat kaum gefährlich werden. Mit Recht zitiert Stefan Wolle den Satz eines Stasi-Offiziers: „Wir haben die Waffen zu früh abgegeben. Die Plüschheinis von der Friedensbewegung wären beim ersten Schuss auseinandergelaufen.“ Dass diese Waffen ungenutzt blieben, dass die chinesische Karte, die Egon Krenz noch im Sommer öffentlich ins Spiel brachte, am Ende nicht gezogen wurde, bleibt auch dann ein erstaunliches Ereignis, wenn wir im Nachhinein gelernt haben, wie schwach und handlungsunfähig die vergreiste SED-Führung in den Strudel ihrer Entmachtung gerissen wurde, wie hoffnungslos überschuldet die DDR und wie marode ihre Wirtschaft wirklich waren und wie isoliert die Wandlitzer Politbürokratie von der sowjetischen Entwicklung wie von der eigenen Bevölkerung.

Kaum jemand hat sich die atemberaubende Entwicklung vorstellen können, in der in wenigen Monaten hinfällig wurde, was über fast ein halbes Jahrhundert unantastbar gewesen war. Dass der in diesem Zusammenhang als weißer Rabe vielzitierte Geheimdienstgeneral und Politpensionär Vernon A. Walters (1917 - 2002), den US-Präsident George Bush sen. im Januar 1989 zum Botschafter in Bonn ernannt hatte, im April 1989 in nüchterner, machtpolitischer Analyse gegenüber westdeutschen Politikern von einer Wiedervereinigung in ein bis zwei Jahren gesprochen und seine Ansicht auch öffentlich kundgetan hatte, fand der wache Zeitbeobachter Rudolf Augstein noch im September 1989 derart absurd, dass er ihm in einem Kommentar überzeugt entgegenhielt: „Keine schlafende Löwin, ausgeschildert als deutsche Einheit, erhebt ihr Haupt.“

Tatsächlich war der Zusammenbruch des SED-Regimes allenfalls strukturell antizipierbar, aber nicht als politisches Ereignis. Die Zäsur von 1989 hat keine Macher, und sie kennt keine Helden, weil sie eine Revolution ohne Revolutionäre darstellte. Regimegegner und -anhänger waren sich in ihrer Verblüffung über den plötzlichen und nahezu lautlosen Zerfall der vierzigjährigen Diktatur einig. Honecker selbst suchte Zuflucht bei konspirativen Denktraditionen und erklärte sich zum Opfer eines großangelegten Manövers, dessen Drahtzieher sich noch im Hintergrund hielten. Doch der plötzliche Zusammenbruch des ostdeutschen Teilstaates ließ nicht nur den entmachteten SED-Generalsekretär ratlos zurück; er überraschte auch seine Urheber.

Die einzelnen Etappen des Umbruchs und ihre Dynamik ergaben sich paradoxerweise sämtlich aus den gegen die von den beteiligten Akteuren und Akteursgruppen verfolgten Absichten. Keine einzige der sich im Sommer 1989 rasant ausbreitenden Oppositionsgruppen strebte die Beseitigung der DDR und ihre Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik an, kämpfte für die Abschaffung des Sozialismus und die Übernahme des westlichen Wirtschaftssystems oder arbeitete auch nur gezielt und unmittelbar auf den Sturz des Regimes hin. Die Ausreisebewegung wiederum schwoll nicht an, weil sie das Regime am Ende wusste, sondern gerade im Gegenteil, weil die Ausreisebegehrenden von seiner Fortdauer überzeugt waren. Die oppositionelle Bürgerbewegung setzte ihre Hoffnung in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht auf eine Abschaffung der DDR, sondern auf ihre Erneuerung im Zeichen eines „verbesserlichen Sozialismus“; und auch die um Egon Krenz gescharte „Reformgruppe“ wurde vom Glauben an die Erneuerbarkeit der SED-Herrschaft getrieben und stürzte Honecker, um das Projekt Sozialismus zu retten. Selbst die Maueröffnung vom 9. November 1989 erschien weder ihrem Verkünder Günter Schabowski noch den Massen, die ihn schon in derselben Nacht beim Wort nahmen, oder den Oppositionellen, die von der Entwicklung überrascht wurden, als Anfang vom Ende der DDR, sondern als ein überfälliger, wiewohl nicht risikoloser Schritt zur Normalisierung.

Das unmittelbare Verdienst, am 9. November 1989 die Mauer unvermutet zum Einsturz gebracht zu haben, gebührte schließlich nicht den Ausreisern, nicht den Demonstranten und schon gar nicht den Oppositionellen, sondern einer Kette von Missverständnissen und Eigendynamiken, wie sie nur das Medienzeitalter produzieren konnte. Seine unmittelbare Veranlassung lag in dem bekannten Ungeschick Günter Schabowskis, der eine das geplante Reisegesetz vorwegnehmende „Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR“ ohne Wissen um die eigentlich vorgesehene, aber von Krenz nicht mitgeteilte Fristbindung auf den nächsten Morgen „sofort und unverzüglich“ in Kraft setzte und dabei nicht einmal den alliierten Sonderstatus im Blick hatte, wie ihm nach eigenem Bekunden beim Vorlesen des Papiers durch den Kopf schoss. Dass Schabowski in seinen stotternden Auslegungsbemühungen vor der ungläubig zuhörenden Weltpresse aber noch sichtlich „damit beschäftigt (war), die neue Politik zu begreifen“, wie NBC-Chefreporter Tom Brokaw beobachtete, ging darauf zurück, dass die entsprechende Arbeitsgruppe ihren Auftrag zur Erarbeitung einer Übergangsregelung bis zum Inkrafttreten eines neuen Reisegesetzes eigenmächtig von der ständigen Ausreise auf zeitlich befristete Privatreisen erweitert hatte, ohne den fundamentalen Unterschied zwischen Stippvisite und Ausbürgerung zu beachten. Und eine entscheidende Rolle übernahm schließlich die ungeduldige Konkurrenz der Westmedien. Heute kennen wir dank der Forschungen meines Potsdamer Kollegen Hans-Hermann Hertle den Ablauf des Geschehens, das erst durch die sich überbietende mediale Vorwegnahme den Druck auf die innerstädtischen Grenzen erzeugte, über dessen mauersprengenden Effekt sie vermeintlich nur berichtete.

Wunschdenken und nicht Tatsachen verleiteten Hajo Friedrichs in der Hamburger Tagesthemen-Redaktion am 9. November um 22.42 Uhr vor dem eingespielten Bild des Brandenburger Tors zu seinen berühmt gewordenen Sätzen, die im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte machten: „Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser neunte November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen!“

Später gestand der Chef vom Dienst der Tagesthemen, wie sehr Realität und Reportage auseinanderklafften: „Dann begann die Sendung, für die wir unsere Beiträge und Liveschaltungen vorbereitet hatten. Wir waren furchtbar enttäuscht, weil dann nicht das passierte, was wir erwartet hatten: dass zuhauf Menschen von Ost nach West und von West nach Ost gehen. Das war in unserer Sendung leider nicht zu sehen.“ Erst danach begann der eigentliche Ansturm auf die Grenzübergänge, an denen sich bis 21.30 Uhr – mit Ausnahme der Heinrich-Heine-Straße, wo 120 Personen versammelt waren, und der Bornholmer Straße – lediglich vereinzelt Personen eingefunden hatten. Viel sprach dafür, dass die Neugier der Zaungäste gänzlich abebben würde, nachdem die Kontrollorgane auch noch die etwa 1000 auf die Übergangsstelle Bornholmer Straße Drängenden mit einer „Ventillösung“ (Hans-Hermann Hertle) nach Westberlin abzuschieben begonnen hatten – noch gegen 22 Uhr zeigte ein Einspielfilm der Berliner Redaktion die fast völlige Ruhe an den Grenzübergangsstellen Heinrich-Heine-Straße und Checkpoint Charlie. Es waren die Medien selbst, die in diesem Fall von Beobachtern zu Handelnden wurden und die Wirklichkeit nicht abbildeten, sondern erst schufen und durch ihr abendliches Herandrängen den Druck auf die Grenzübergänge so verstärkten, dass den beiden stellvertretenden Leitern der Passkontrolleinheiten am Übergang Bornholmer Straße um 23.28 Uhr in ihrer letzten Meldung an die zuständige Hauptabteilung VI in Berlin-Treptow nur noch die Kapitulation blieb: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!“

Die größte Ironie des Vorgangs besteht darin, dass auch die Medienwelt das Geschehen, das sie selbst in Gang gesetzt hatte, gar nicht vollständig begriff, wie „Spiegel“-Redakteur Georg Mascolo 15 Jahre später bekannte: „Politbüro-Sprecher Günter Schabowski hatte ein paar Stunden zuvor auf der weltberühmt gewordenen Pressekonferenz Reisefreiheit für die DDR-Bürger verkündet. Aber was genau er damit gemeint hatte und wer nun wirklich fahren durfte, darüber debattierten bei Radeberger vom Fass erfahrene Korrespondenten mit den angereisten Neulingen. Nach meinen Erinnerungen sagten an diesem Abend nicht einmal die wagemutigsten Analytiker den Fall der Mauer und das Ende der Teilung des Landes voraus. Erst in den Gesprächen haben wir den anderen Teil der Geschichte der Nacht des 9. Novembers erfahren: Einen Befehl, die Mauer zu öffnen, gab es nicht. Klare Anweisungen bekamen die Grenztruppen nicht, es herrschte nur Konfusion.“

Dass diese absurde Verkettung von Kommunikationspannen zum eigentlichen Auslöser eines Weltereignisses wurde, war freilich nur möglich, weil im Herbst 1989 eine revolutionäre Situation entstanden war, in der in den Worten Lenins die da unten nicht mehr wollten und die da oben nicht mehr konnten. Am Ende verwandelten nicht Missverständnisse die in deutsch-deutschen Verhandlungen noch immer mit nach Milliarden zu taxierende Mauer in einen Abrissauftrag, sondern die vielen Tausend Menschen, die an diesem Abend in Ostberlin alles stehen und liegen ließen, um die behauptete Öffnung der innerstädtischen Grenzen mitzuerleben und dann zu erzwingen. Aber diese Feststellung ändert nichts an der Tatsache, dass der Einsturz der Berliner Mauer ein unvorhersehbares Ereignis war; deren Abtragung sich auch in geordneten Bahnen um den Preis massiver westdeutscher Wirtschaftshilfe für den SED-Staat hätte vollziehen oder auch ganz hätte ausbleiben können, wenn eine jüngere und energischere Parteiführung in der Krise dem Ratschlag der konservativen Honecker-Gegner im Politbüro gefolgt wäre und für ihre Strategie des bedingungslosen Anschlusses an Moskau Unterstützung in einer vom Fehlschlag der Perestroika desillusionierten sowjetischen Führung gefunden hätte.

1989 markiert die Schlusszäsur einer jahrhundertprägenden Konkurrenz der unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfe von Faschismus, Kommunismus und Liberalismus, und aus ihr leitet sich das Konzept des kurzen „Jahrhunderts der Extreme“ ab. Sein Enddatum steht für den Zerfall der kommunistischen Weltordnung in Europa, der ganz überraschend die schon für ewig erklärte Teilung der Welt in zwei entgegengesetzte Lager aufhob, der die Maximen der Marktwirtschaft, die unveräußerliche Würde und Freiheit des Menschen, die Idee der Rechtsstaatlichkeit von einer Überzeugung unter anderen zu einem universalen Anspruch der Menschheit machte.

Denn die eigentliche Bedeutung der Zäsur von „1989“ liegt im fundamentalen Legitimationsverlust von Gewalt, die das politische Denken im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so eklatant von der Gewaltkultur der ersten Jahrhunderthälfte unterscheidet. Dass sich die um ihre Macht kämpfenden SED-Eliten ebenso sehr wie ihre politischen Gegner auf der Straße an der Losung „Keine Gewalt“ festhielten, verdankt sich nicht zuletzt dem Niedergang der Gewalt als politischer Handlungsoption, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufstieg der Menschenrechte zu einer globalen politischen und kulturellen Norm begleitete. Der diktatorische Sozialismus der DDR ging nicht allein an seinen wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten und am Verlust seines blockpolitischen Rückhaltes zugrunde, sondern auch an einer schleichenden politisch-kulturellen Werteverschiebung, die den Schutz und die Entfaltung des Individuums an die Stelle von Kollektivsubjekten wie Klasse, Volk und Gemeinschaft gerückt hatte und so die kommunistische Legitimation von Herrschaft durch Gewalt untergrub.

Obwohl die Zäsur des Mauerfalls epochal war, war sie dennoch nicht total. Selbst in der engen deutschen Nationalgeschichte markiert der Herbst „1989“ vor allem einen politischen und herrschaftsgeschichtlichen Einschnitt, der überdies nur einen Bruchteil der größer gewordenen Bundesrepublik betraf.

In globalem Maßstab präsentiert sich 1989 denn auch als ein Jahr der Bewegung, aber auch der Widersprüche, wie es in der Forschungsliteratur heißt. Die Bereitschaft des südafrikanischen Staatspräsidenten Frederik de Klerk, den African National Congress im Februar 1990 anzuerkennen und seinen jahrzehntelang inhaftierten und als Terroristen geschmähten Anführer Nelson Mandela freizulassen, war sicherlich durch die friedlichen Wandel in Ostmitteleuropa befördert worden und ebenso die weltweite Sympathie für Mandelas Strategie der friedlichen Apartheidüberwindung durch eine Politik der Versöhnung. Andererseits widersprach das zähe Überleben kommunistischer Regime in Nordkorea, Kuba und vor allem China allen euphorischen Annahmen der Zeitgenossen von 1990/91, dass diese Fossile des Kalten Krieges über kurz oder lang dem Zug der Zeit folgen und sich hin zu freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnungen wandeln müssten. Der weltgeschichtliche Trend zur Einhegung der Gewalt, der sich 1989 so eindrucksvoll bestätigte, fand nicht die erhoffte Fortsetzung, und das Ende des Kommunismus bedeutete eben kein Ende der Gewalt, sondern stattdessen den Auftakt zu blutigen Nachfolgekonflikten im ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschenien und jüngst in der Ukraine. In der globalgeschichtlichen Forschung überwiegt heute ein nüchterner Blick, der dazu tendiert, die Chiffre „1989“ in globaler Perspektive nicht als punktuellen Einschnitt, sondern als langen Übergang zu begreifen, dessen Tiefenwirkung nicht überschätzt werden sollte und in dem in der Summe die Kontinuität den Wandel überwog.

Viele zeitgeschichtliche Entwicklungstrends auch in Deutschland und Europa blieben vom Mauerfall gänzlich unberührt. Die Herausbildung der Informationsgesellschaft in der digitalen Revolution, der Umbau des Bildungssystems, der demografische Wandel und die krisenhafte Expansion des Sozialstaats bezeichnen Entwicklungen, die vor 1989 einsetzen und vom Herbst 1989 zwar betroffen, aber kaum in ihrer Richtung verändert wurden. Für die Alltagsgeschichte der westeuropäischen Gesellschaft bedeutete der Beginn des Internetzeitalters einen sehr viel größeren Einschnitt als der Fall der Berliner Mauer. Umgekehrt entfalteten sich viele die Gegenwart bestimmenden Trends aus Wandlungsprozessen der 1970er- und 1980er-Jahre, und mein Potsdamer Kollege und Co-Direktor am ZZF Frank Bösch argumentiert überzeugend, dass das Jahr 1979 einen tiefergreifenden historischen Wandel nach sich zog als das Jahr 1989 und verweist zur Begründung auf die weltpolitisch seit der iranischen Revolution 1979 so mächtig gewordene „Rückkehr der Religion“, die mit der Wahl Margret Thatchers 1979 verbundene Hinwendung zu Marktliberalismus und staatlicher Deregulierung sowie auf das neue Interesse an Geschichte, für das die Ausstrahlung der Holocaust-Serie zu Weihnachten 1979 steht.

Mit der Globalisierung zogen neue Trennlinien herauf, die sich nicht mehr nach den alten Gegensätzen von Demokratie und Diktatur, Kapitalismus und Kommunismus oder entlang der Rivalität der beiden Supermächte ordnen lassen. Die neuen Paradigmata für die Ordnung der Welt sind wieder stärker kulturell, traditional und vor allem religiös begründet.

Wie aber ist mit einer Zäsur umzugehen, deren elementare Wucht von den Zeitgenossen beglaubigt, aber in ihrer Tiefe von der Zeitgeschichte nicht in vollem Umfang bestätigt wurde? Als der kritischen Reflexion zugängliche historiografische Deutungszäsur lässt sich der Einschnitt von 1989 infrage stellen, nicht aber als sinnweltliche Erfahrungszäsur, die das Denken und Handeln der Zeitgenossen, insbesondere der Ostdeutschen, unmittelbar beeinflusste. Geschichtliche Zäsuren stellen mit Johann Martin Chladenius „Sehepunkte“ bereit, also Umbruchsdaten einer historischen Entwicklung, die die historische Entwicklung als abgeschlossene Epoche kennzeichnen und ihren Deutungshorizont vorgeben.

Das im Mauerfall von 1989 versinnbildlichte Ende des Kalten Krieges markiert eine solche Schlussszene, die die nationale wie globale Geschichte neu justierte. Es schuf eine grundstürzend neue Perspektive, den Endpunkt einer historischen Entwicklung, der zur Reorganisierung des eigenen Weltverständnisses herausfordert. Der rasche und widerstandslose Zerfall der SED-Herrschaft im Herbst und Winter 1989 war ein Ereignis, das ante factum nicht vorstellbar war und post factum geschichtsnotwendig erscheint. Es sprengte den Denkrahmen der Politik, überstieg die Fantasie der Öffentlichkeit.

Einstige DDR-Oppositionelle überspielen heute nicht selten die bis zur Enttäuschung über den unvermuteten Fall der Mauer reichende Ambivalenz ihrer damaligen Sicht ebenso wie ihre „Hoffnung auf eine sozialistische Perspektive“ in einer erneuerten, aber keinesfalls preisgegebenen DDR. So gerät aus dem Blick, dass erst der unvermutete Ausgang der Volkskammerwahl und der Sieg der vereinigungsorientierten „Allianz für Deutschland“, der die Bürgerrechtsbewegung marginalisierte, dem Konzept eines „Dritten Weges“ die politische Handlungsgrundlage nahm. Es wirkt wie aus der Zeit gefallen, dass nicht nur Bärbel Bohley um „die verlorene Chance“ trauerte, „dass hier wirklich etwas hätte entstehen können, was ganz neu ist in der Welt“.

Auf diese Weise hat die Zäsur von 1989 unabhängig von ihrem realgeschichtlichen Wirkungsgrad eine sinnweltliche Ordnungskraft erlangt, durch die andere geschichtliche Entwicklungswege in den Schattenbereich des nur noch mit Mühe Vorstellbaren abgedrängt wurden. 25 Jahre danach ist der Umbruch von 1989 in eine Großerzählung des 20. Jahrhunderts eingeordnet worden, die von der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs über den Zivilisationsbruch der NS-Herrschaft bis zum Ende der europäischen Spaltung in sich bekämpfende Lager reicht und heute zum Kernbestand westlicher Identität zählt – zum 25. Jahrestag des Mauerfalls erleben wir Lichterspektakel, aber nicht mehr Deutungskämpfe.

Martin Sabrow (60) ist Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Uni Berlin.

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