Von Dirk Becker: Der vermessene Wunsch nach Klarheit Thomas Pletzinger erhält den „Kleinen Hei“
Mandelkern hat genug mit seinem eigenen Leben zu tun. Mit seiner Frau Elisabeth, die gleichzeitig seine Chefin in der Redaktion ist.
Stand:
Mandelkern hat genug mit seinem eigenen Leben zu tun. Mit seiner Frau Elisabeth, die gleichzeitig seine Chefin in der Redaktion ist. Den seltsam unterkühlten, manchmal wie abwesend erscheinenden Versuchen, diese Ehe zu retten. Seine journalistische Arbeit, die ihn durch die Welt reisen lässt. Ein Traumjob, doch für Daniel Mandelkern ist der nur „gerahmt von tagelangem Schweigen in Flugzeugen, Hotels und Busbahnhöfen“.
Mandelkern, Mitte 30, Studium der Ethnologie, Auslandsstipendien und abgebrochene Dissertation, ist auf der Suche nach sich selbst. Ein Treibender, der sich nicht entscheiden kann, nicht entscheiden will. Dann bekommt er diesen Auftrag, den erfolgreichen Kinderbuchautoren Dirk Svensson zu portraitieren, stürzt in ein noch größeres Chaos als sein eigenes Leben ihm bisher erschien und weiß nach vier turbulenten Tagen in Italien zumindest, was er nicht mehr will.
„Bestattung eines Hundes“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, heißt der Debütroman von Thomas Pletzinger. Darin erzählt er die Geschichte Mandelkerns als einen sich ständig wiederholenden, um Selbstverständnis bemühten inneren Monolog. Und erzählt die Geschichte Svenssons, die auf 300 schreibmaschinengeschriebenen Manuskriptseiten in einem verschlossenen Koffer unter einem Schreibtisch in einem alten Steinhaus am Luganer See ruht.
Morgen erhält Thomas Pletzinger für „Bestattung eines Hundes“ den Potsdamer Literaturpreis „Der kleine Hei“. Damit ist der 33-Jährige nach unter anderem Julia Franck und Tilman Rammstedt der sechste Autor, der den jährlich vergebenen und vom Buchhändler Carsten Wist gestifteten Preis verliehen bekommt.
Mandelkerns Leben, vor seinem inneren Auge rekapituliert, erscheint in seiner, an den Untersuchungsschemata der Ethnologie geschulten Betrachtung oft analytisch kühl. Carolina, Nadine, Tanja, Eva, Katrin, Hanna, Britta, Carolina, Eva, Anna, Laura, Elisabeth – mit diesen zwölf Frauen hatte Mandelkern geschlafen. Er systematisiert und katalogisiert seine Erinnerungen, gelegentlich notiert er sich auch Überschriften aus Zeitungen, Momentaufnahme, als hätte er Angst, sich abhanden zu kommen.
Svenssons Leben, wenn es denn Svenssons Leben ist, das Mandelkern auf den über 300 Manuskriptseiten liest, scheint das reinste Road Movie zu sein. Entwicklungshilfe in Brasilien mit Schusswaffen, Drogen und entsprechender Gewalt, New York in den Tagen und Wochen nach 09/11. Svensson treibt durch die verletzte Stadt wie durch einen bizarren Traum, der sich Leben nennt. Das soll der Autor des Kinderbuchs „Die Geschichte von Leo und dem Nichtviel“ sein, das mehr als 100000 Mal verkauft wurde und in siebzehn Sprachen übersetzt werden soll? Doch am Ende, dort am Luganer See, steht Svensson wie Mandelkern hilflos vor dem, was gern Lebensentwurf genannt wird. Pletzinger gibt dieser Hoffnungslosigkeit, dem Scheitern an den eigenen Erwartungen eine temporeiche, diesen Verwirrungen entsprechende und sehr feine Sprache. Das ständige Streben nach irgendetwas, das oft nur eine große Leere hinterlässt, dieser vermessene Wunsch nach Klarheit. A
m Ende wird Daniel Mandelkern erkennen: „Dass ich ein Hin und Her bin, ein Entweder Oder, ein Vielleicht“.
Preisverleihung und Lesung mit Thomas Pletzinger am morgigen Dienstag um 20 Uhr, in Wist. Der Literaturladen, Brandenburger/ Ecke Dortustraße.
Dirk Becker
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: