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Kultur: Die lange Nacht der kurzen Stücke

Das T-Werk lud zum „Theaterfrühling“ 2005 ein

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Das T-Werk lud zum „Theaterfrühling“ 2005 ein Ein Geruch des Amateurhaften mag dem freien, nicht staatlichen Theater und Tanz anhaften. Doch nirgendwo an etablierten Häusern ist die Chance so groß, überrascht zu werden und eine Kunst zu erleben, die sich frech und nah an der Gegenwart bewegt. Auch ist der hoffnungslose Arbeitsmarkt vielleicht ein Gewinn. Die Option, mit professioneller künstlerischer Ausbildung sein eigen Ding zu machen, bietet sich zunehmend an. Was dabei herauskommt, hat zum Beispiel den ausverkauften Saal im T-Werk begeistert. Dort fand, im Rahmen des Treffens freier Theater aus Berlin und Brandenburg, die „Lange Nacht des Freien Theaters“ statt. Zunächst aus Cottbus die Dance Company Bettina Owczarek. In ein afrikanisch anmutendes Tuch gehüllt betritt die Tänzerin (und gleichzeitig Choreografin) die Bühne, beschmiert sich mit braunem Lavaerdeschlamm und tanzt über den Boden, durch den Raum, um die dastehenden Flamencoschuhe, zu Bassmusik mit Gesang. Schöne Bewegungen, vielmeinende Blicke ins Publikum, die so schwer zu deuten sind, wie die gesamte Tanzvorführung. Ein Schwall von Lavaerde schüttet sie sich übers Gesicht, tanzt wie traumverloren und wird von einer zweite Tänzerin (Berit Petzsch), die plötzlich aus den Zuschauerreihen aufsteht, aufgefangen, bewegt, gedreht. Die mittlerweile trockene Erde staubt. Die Tänzerin öffnet die Augen, erwacht aus ihrem „African Dream“, stößt die andere weg, steigt in die Schuhe und verfällt in einen stolzen Flamenco. Den dritten Teil „medea redux“ des Stückes „Bash. Stücke der letzten Tage“ von Neil LaBute zeigte das Piccolo Theater (Cottbus). Eine junge Frau spricht in einen Recorder, der auf dem Tisch steht. So unbequem der Figur ihre Abhörsituation zu sein scheint, so wenig scheint die Schauspielerin Heide Zengele mit ihrer Rolle zurecht zu kommen. Doch unmerklich zieht es einen hinein in die in alltäglichem Ton erzählte Geschichte des dreizehnjährigen Mädchens, das von ihrem Lehrer geschwängert wird (Regie: Reinhard Drogla). „Ich weiß schon, was Sie jetzt denken: dass er ein Kinderschänder ist und ich selbst dran Schuld war. Aber wir mochten uns einfach“. Der Lehrer macht sich aus dem Staub, das Mädchen hält den Mund. Am vierzehnten Geburtstag ihres Sohnes fährt die junge Frau zum Vater des Kindes. Sie liebt ihn immer noch. Sie sieht die Liebe zu seinem Sohn in seinen Augen. Und sie sieht seine Befriedigung darüber, ungestraft davongekommen zu sein. Am selben Abend tötet sie ihren Sohn. Was sie im Gefängnis über die Tage bringe, sei der Gedanke an den verzweifelten Mann, der über Kinderspielplätze stolpert und „warum?“ schreit. Ist die Welt aus dem Lot? Können wir nichts dafür, weil wir nur Menschen sind? Auf seine Frage wird er nie eine Antwort erhalten. Bunt, frech, komisch war das Spiel mit Masken vom deutsch-japanischen Theater Nadi aus Potsdam/Berlin (Noriko Seki und Steffen Findeisen), dem sich ein Kolumbianer (Nelson Leon) und eine Engländerin (Daisy Watkiss) angeschlossen hatten. Mit grotesken Halb-, Ganzmasken und Tierköpfen spielten sie in ihrer „Maskenparade“ kleine tänzerisch-pantomimische Episoden und begleiteten alles mit kräftiger Livemusik (u.a. Cello, Trommel, Akkordeon). Begeisterter Applaus für die fantasievolle Unterhaltung, auch wenn sie sich jedem inhaltlichem Ziel enthob. Sehr konkret dagegen und nicht weniger komisch die Perfomance „02 Schlagwerk: häschen hops“ von Paula E. Paul und Harald Christoph Thiemann (Potsdam). Zu Anfang die Aufklärung über die Ausbildungen (klassisches Schlagzeug, bzw. klassisches Ballett) und Laufbahn der beiden Darstellenden, die nach einer ABM-Stelle ins freie Künstlertum mündete. Gerade proben sie einen kniffligen Part: die Tänzerin hopst zum Polka-Rhythmus, in Holzschuhen und mit zwei Holzklöppeln winkend, durch den Raum und soll bei einem bestimmten Schlaggeräusch auf einer Holzplatte landen. Der durch die Ignoranz des Kollegen vereitelte Erfolg dieser Übung wird von jenem schamlos kommentiert: „Ich finde, dass du dir nicht genug Mühe gegeben hast. Paula: Tempo, Flexibilität, Wach-Sein“. Tapfer setzt Paula erneut ihr Publikumslächeln auf und hopst zum x-ten Mal los. Als seriöse Ballerina ist Paula E. Paul nach dieser Performance schwer vorstellbar. Wie könnte sie je ihre urkomischen Blicke und diese Mimik unterdrücken? Dass sie tänzerisch viele in den Schatten stellt, wird spätestens dann unübersehbar, wenn die beiden richtig loslegen. Wenn Paula E. Paul auf einer metallen-hell und einer bassig-dumpf klingenden Bodenplatte zu steppen beginnt, zu reiben, zu schleifen und das Schlagzeug die Tänzerin begleitet, sie voneinander abnehmen und sich aneinander hochsteigern. Wofür die absurde Kopfbedeckung der ansonsten sportlich gekleideten Tänzerin dienen sollte, wird zum Schluss klar. Ein glänzender Nylonstrumpf, dessen Zierrand einen Oberschenkel umschließen sollte. Plötzlich haben beide solch einen Strumpf überm Gesicht und sind die Gelderpresser des Publikums. Zwei Arbeitsausschnitte folgten. Andreas Hueck vom Poetenpack (Potsdam) rezitierte auf mitreißende Weise Gedichte von Mascha Kaléko (1907-1975). Der Franzose Joris Camelin (Tänzer), die Griechin Mata Sakka (Tänzerin) und Jörg Lukas Matthaei (Sprecher) zeigten, in Zusammenarbeit mit der fabrik (Potsdam): „Watching me watching you“. Gewohnte Aufführungssituationen wurden auf den Kopf gestellt, fließender schöner Tanz immer wieder unterbrochen. Meist war es auf der Bühne dunkler als im Publikum, das zudem gefilmt und auf eine Leinwand projiziert wurde. Die Tanzenden sangen ihre Tanzmusik, der Tänzer erklärte, dass ihm vor vollem Saal nichts einfalle. Sie machten sich über die heimlichen Wünsche des Publikums lustig, provozierten mit durchtrainierten Bäuchen, kreisenden Hüften, heruntergelassenen Hosen und gutaussehenden Bewegungsabläufen. Zuletzt liefen die zwei Tanzenden eng hintereinander synchron im Kreis, wie ein einziger Mensch. Aus den Lautsprechern Applausschleifen. Und lange wagte es niemand, zu gehen. Denn man geht erst, wenn die Darstellung zuende ist und es dunkel wird. Oder?

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