zum Hauptinhalt

Literaturfestival in Potsdam: Die Macht der Sprache

Zum ersten Mal fand am Wochenende das Festival lit:potsdam statt. In der Schiffbauergasse las Herta Müller. Eröffnet wurden die drei literarischen Tage mit Taiye Selasi und Ingo Schulze

Stand:

Die Leichtigkeit dieses literarischen Sommers – für einen Moment drohte sie abhanden zu kommen. Als Herta Müller sich aufrichtete in ihrem Stuhl und diese zarte Frau wehklagte, anklagte, die Menschenrechtsverletzungen in dem Riesenreich China, das Wiederauferstehen des Marxismus, diese Vergeudung von Menschenleben. Gerade ist in einer deutschen Zeitung ein Feuilleton mit Bildern des chinesischen Malers Ai Weiwei und Texten von Herta Müller erschienen. Dazu musste sie etwas sagen, auch wenn es vielleicht nicht geplant war.

Die Schriftstellerin, die am gestrigen Sonntag beim Literaturfestival zu Gast war, hat in ihren Werken immer wieder Menschen und Diktaturen thematisiert. Vieles ist autobiografisch geprägt oder basiert auf Erfahrungen. Herta Müllers Familie gehörte zur deutschen Minderheit in Rumänien und geriet nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen die Fronten. Familienangehörige wurden deportiert, sie selbst wurde als junge Frau von der Securitate bespitzelt, verhört, weil sie einerseits einem jungen deutschsprachigen Schriftsteller-Kreis angehörte, andererseits sich weigerte, für den Geheimdienst zu arbeiten. Man drohte ihr, sie umzubringen, und inszenierte einen Fahrradunfall. Bis heute, sagt sie, ist sie nie wieder Rad gefahren. Doch wenn sie sagt: „Ich brauche das Fahrrad nicht mehr“, geht es um weit mehr als das Verkehrsmittel. Bei Herta Müller geht es um Worte.

Neben ihren Romanen begann sie vor einigen Jahren unter eher handwerklichen Aspekten mit dem Rohmaterial Sprache zu arbeiten. Ihre Collagen erregten Aufmerksamkeit: Was sind sie, Gedichte? Geschichten? Spielerei? Einfach Texte, sagte sie stets selbst, doch hinter der Einfachheit versteckt sich, wie so oft, ein kompliziertes System, Perfektionismus, durchdacht bis zum Ende. Es war gut, es war wunderbar, dass Herta Müller selbst diejenige war, die am Sonntag aus ihrem Buch „Vater telefoniert mit den Fliegen“ las, während die Seite für alle sichtbar gezeigt wurde. Wie in einer Erstleser-Fibel oder einem Kinderbuch reihen sich die Wörter aneinander, bunt, in verschiedenen Schrifttypen und Größen. Mechanisiert erzählt sie es immer wieder, die Schriftstellerin, wie sie die Schnipsel über Jahre sammelt und archiviert und dann zu Sätzen zusammenbaut. Einfärbt, aufklebt, bis alles passt, bis es schön aussieht, denn das Auge liest mit, bis die Versform stimmt, Reim, Sinn oder Un-Sinn. Man kann das Wortmaterial zackig hintereinander lesen und sich am ungewohnten Klang der ungewohnten Koppelungen erfreuen. Und man kann es lesen und nach jedem Satz innehalten und auf die Suche gehen. Dann macht auch der Satz Sinn, in dem das Fahrrad doch noch Verwendung fand: „In meinen Schläfen / baden zwei Eidechsen/ die linke ist dienstlich / sie kam mit dem / Fahrrad die rechte ist / privat sie war im Salat“.

Sprache kann alles, sagte Herta Müller, zerstören, nötigen, natürlich auch streicheln. Es gebe keine unschuldigen Wörter, so Herta Müller weiter, noch immer stecke ihr die blecherne Funktionärssprache im Ohr. Den Sinn für die Schönheit der Sprache – und das Wort als Werkzeug – hat sie sich zäh erkämpft, zu Hause, sagte sie, gab es bis auf einen Brockhaus und ein Doktorbuch keine Bücher. Immerhin, Letzteres verfügte über aufklappbare Körperbilder mit herausnehmbaren Organen, erzählte und gestikulierte die schmale Frau – die heute aus Baumarktflyern organisches Lesematerial zusammenklebt.

Die Erstauflage des Literaturfestivals hatte am Wochenende mit einigen konkurrierenden Veranstaltungen zu kämpfen. Vor allem der Familiennachmittag auf dem RBB-Gelände mit Lesungen und Angeboten gerade für Kinder hätte noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Gut besucht, wenngleich nicht ausverkauft war die Veranstaltung mit Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller, auch der Buchmarkt zog Publikum an. Lang ausverkauft waren einige Floßfahrten mit Potsdamer Autoren und Persönlichkeiten, die im sehr kleinen Kreis aus Brandenburgs Literatur-Schatzkistlein vorlasen.

Am Freitag war das literarische Wochenende, das im kommenden Jahr laut Veranstalter, der Verein Litpotsdam, auf ein zehntägiges Festival ausgedehnt werden soll, mit einer Lesung und Festveranstaltung auf einem Schiff eröffnet worden. Zum Thema „Globalisierte Heimat“ lasen Ingo Schulze, Schriftsteller mit ostdeutscher Sozialisierung, und Taiye Selasi, Schriftstellerin mit afrikanischen Wurzeln, die sich selbst als Afropolitan bezeichnet: eine gebildete, ruhelose Frau, nirgendwo richtig zu Hause und doch überall ein bisschen. Vom Deck des Schiffes aus fotografierte sie Potsdam, so wie sie in jeder für sie neuen Stadt zuerst einmal Bilder machen müsse. Später las sie, auf Englisch, mit weicher, samtener Stimme und ein wenig zu schnell, als wolle sie den Zuhörern keine Unannehmlichkeiten bereiten, aus ihrem Buch „Die Dinge geschehen nicht einfach so“ die ersten Seiten vor. Eine Geschichte über den überraschenden sozialen Abstieg eines Arztes, ein Mann aus Ghana, dem ein Kunstfehler im OP zum Verhängnis wird.

Ingo Schulze las, auf Wunsch des Veranstalters, aus dem Vorwort zu „Unsere schönen neuen Kleider“ über seine Erfahrungen auf einer Tagung der Bundesbank, zu der er als „Stimme des Volkes“ geladen worden war. Auch auf dem Schiff mutete es seltsam an, als sich Schulze plötzlich festredete und über klassische Falschwörter wie Endlager und marktkonforme Demokratie sprach. Dass vor deren Benutzung nicht nur Politiker nicht gefeit sind, zeigte sich Minuten später im Gespräch mit Moderator Jörg Thadeusz: Dieser wunderte sich, dass Taiye Selasi ohne „afrikanischen Akzent“ las. „Also bitte, Afrika, das sind 55 unterschiedliche Länder“, antwortete die Schriftstellerin. Und wandte sich verschmitzt an Thadeusz: „Sie haben ja auch keinen europäischen Akzent, oder?“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })