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Geschlechtergereichtigkeit: Die ungehörte Stimme der Jungs
Das "Kulturland Brandenburg" widmet sich in diesem Jahr dem Thema „Kindheit in Brandenburg“. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, warum Jungs es heute schwerer haben, sich zu behaupten. In einem Film kommen drei Potsdamer Jungs selbst zu Wort.
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Die Idee ist durchaus gut. In dem Begleitbuch zum aktuellen Themenjahr Kulturland Brandenburg, das sich mit der Kindheit in Brandenburg beschäftigt, kommen Kinder auch selbst zu Worte. In Fragebögen geben sie frisch und unprätentiös zwölf Antworten unter anderem darauf, was Kinder besser als Erwachsene können, was ihnen nicht so gut in ihrem Dorf gefällt oder was sie machen, wenn keiner mit ihnen spielt. Juliane würde beispielsweise eine Freundefindemaschine erfinden. Axinja kritisiert, dass die Erwachsenen nicht auf die Kinder hören und immer nur miteinander quatschen. Und Maximiliane gefällt es nicht, dass es immer noch Streit im Dorf gibt. Das ist interessant und aufschlussreich. Genauso aufschlussreich ist aber auch die Tatsache, dass ausschließlich Mädchen auf den zehn Fragebögen im Buch vertreten sind.
Umso wichtiger, dass zu den 33 Kulturland-Projekten „Spiel und Ernst – Ernst und Spiel“, die am gestrigen Mittwoch im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte vorgestellt wurden, ein Dokumentarfilm gehört, der allein den Jungs gewidmet ist. Die Potsdamer Regisseurin Katharina Riedel sagte gegenüber den PNN, dass sie sich nach ihren drei Frauenfilmen nun den Männern zuwendet. Sie hat selbst einen Sohn in dem schwierigen Alter von 13 Jahren und weiß, wie es ist, wenn zu Hause Funkstille herrscht oder die Lehrer über die Leistungen stöhnen. Was machen, wenn sich Söhne verweigern, die Schule schwänzen oder aggressiv werden? „Die Mädchen sind praktischer und strukturierter und überall vorneweg, bei den Zensuren ebenso wie im Sozialleben. Die Jungs haben es schwerer, sich zu behaupten“, so ihre Wahrnehmung. In ihrem Film, der Ende des Jahres fertig sein soll und den Arbeitstitel „Aus Jungen werden Männer“ trägt, möchte sie drei Potsdamer Jungs über mehrere Wochen begleiten: in der Freizeit, im Elternhaus, in der Schule, in öffentlichen Verkehrsmitteln. Vor allem geht sie der Frage nach, ob hinter dem Versagen oder Abkapseln der Jungen ein Generationsproblem steckt. Es machte sie nachdenklich, als sie den Schweizer Entwicklungspsychologen Allan Guggenbühl hörte, der in einem Vortrag in Potsdam sagte: Wenn 50 Prozent der Jungen als defizitär von der Gesellschaft eingestuft werden, stimme etwas nicht mit der Gesellschaft. Katharina Riedel glaubt, dass es viel mit der starken Rolle der Frauen zu tun hat, „dass die Männer den Schwanz einziehen“. Sie will deshalb schauen, wie Männer um die 40 bis 50 Jahre ihre Kindheit verbracht haben und wie es deren Söhnen heute geht. „Früher waren Disziplin und Gehorsam ganz wichtig, heute wird von den Kindern alles und jedes hinterfragt.“ Das allerdings von Jungen und Mädchen gleichermaßen.
Jan Philipp Sternberg zitiert in seinem Vorwort zum Begleitbuch „Kindheit in Brandenburg“ (Verlag Koehler & Amelang, 19,90 Euro) den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul: „Keiner weiß mehr, wie man es richtig macht mit den Kindern“. Die Eltern seien extrem verunsichert. Auf das autoritäre Erziehungsmodell folgte die antiautoritäre Abgrenzung. Danach Ratlosigkeit. Heute müssen die Eltern selber entscheiden, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Doch dazu wurden sie gar nicht erzogen, wie Sternberg anmerkt. Entschließen sich die Erwachsenen nach langwierigem Abwägen zu einem Kind, soll natürlich etwas aus ihm werden. „Du musst gut sein“, heißt es dann, wenn Kinder als Projekte des eigenen Ehrgeizes betrachtet werden.
Das Kulturministerium fördert dieses auf Kinder fokussierte Themenjahr mit 750 000 Euro, das Infrastrukturministerium steuert 100 000 Euro bei: für Projekte an 45 Orten mit rund 300 Veranstaltungen. Sie sollen die Orte und Wege von Kindheit im historischen Wandel aufzeigen und auch Wagnisse aus Kinderperspektive sichtbar machen, so Brigitte Faber-Schmidt, die Geschäftsführerin vom Kulturland-Verein. Die Idee für das Kindheitsthema sei hineingetragen worden vom Brandenburgischen Literaturbüro. Dort sammelt Peter Walther seit anderthalb Jahren historische Fotos und die dazugehörigen Geschichten von Brandenburgern. 5000 sind etwa zusammengekommen, die älteste Fotografie ist von 1848. Die Ausstellung dazu wird am 26. Juli im HBPG eröffnet. Doch schon ab Mittwoch, den 3. April, um 15 Uhr gibt es dazu einen Vorgeschmack in den Bahnhofspassagen.
„Die Kindheit ist ein Thema, das jeden angeht und ein guter Anlass, die eigene Biografie und die der Eltern und Großeltern zu beleuchten“, sagte Infrastrukturminister Jörg Vogelsänger beim Pressegespräch. „Kindheit war nicht immer ein Schutzraum“, fügte Brigitte Faber-Schmidt an. Und ist es auch heute nicht immer. Das Kulturland will historische Schichten freilegen, Türen zu ehemaligen Heimen und Schulen öffnen, wie zu „Preußens Töchter“ in der Heiligengraber Stiftsschule, eine Erziehungsanstalt für verarmte adlige Mädchen (ab 9. Juni), oder für das Große Militärwaisenhaus Potsdam, in dem ab 10. April eine Ausstellung zeigt, wie Kinder und Jugendliche in Potsdam und Umgebung vor 250 Jahren gelebt haben. Um die Sehnsucht nach Anerkennung und die Kinderrechte in Geschichte und Gegenwart geht es ab 24. Mai dann im Rochow-Museum im Schloss Reckhahn.
Die Sehnsucht nach Anerkennung ist ein zeitloses Thema. Gut, dass das Kulturland auch so ein Projekt wie den Film von Katharina Riedel unterstützt, der sehr aktuell ins Hier und Heute führt und wichtige Fragen ratloser Eltern, überforderter Lehrer und unverstandener Kinder aufwirft. Die Regisseurin wird einen der Jungen in die Asklepios Tagesklinik in Potsdam begleiten, wo Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen, Ängsten und Aggressionen psychisch betreut werden. „Dort wird es als ganz normal betrachtet, dass Jungs gern viel ausprobieren, auch extreme Sachen, dass sie oft verstiegener und versponnener als Mädchen, aber auch zu anderen Denkleistungen in der Lage sind. Das wird in der Schule nicht immer gesehen“, so Katharina Riedel. Mit dem Thema Kindheit kann das Kulturland in jedes Kinderzimmer vorstoßen.
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www.kulturland-brandenburg.de
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