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Kultur: „Diese Obdachlosigkeit ist eher eine im Kopf, als eine Art Heimatlosigkeit“

Der Potsdamer Fotograf Göran Gnaudschun über seinen Bildband „Alexanderplatz“, dreieinhalb Jahre in der Szene und Lebensgeschichten, die ihm stark zusetzten

Stand:

Herr Gnaudschun, wie haben Sie den Alexanderplatz als Thema für Ihre Fotolangzeitdokumentation entdeckt?

Bevor ich mich mit dem Alexanderplatz beschäftigte, hatte ich einen sehr malerischen Zugang zur Fotografie. Nehmen wir die Reihe „Neue Porträts“, also Porträts, die für sich stehen. Da ist nur das Bild ohne eine weitere Information, nur ein Titel wie „Junge mit halblangen Haaren“. Die Fotografie in diesem Fall als Spiegel und nicht als Fenster. So wie es oft in der Malerei ist, dieses Aufgehobensein in einem Bild, ohne dass es gleich einen direkten Bezug zur Außenwelt gibt. Das war so sehr zu meiner Arbeitsweise, einem inneren Credo geworden, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, ich muss mal wieder etwas anderes machen. Daraus wurde dann die Sehnsucht nach einer dokumentarischen Arbeit.

Eine dokumentarische Arbeit, in der aber auch das Porträt dominiert.

Ja, aber wo die Art der Fotografie für mich erst einmal in den Hintergrund trat. In den Arbeiten davor ging es ja sehr viel um Licht und Details, um Kleinigkeiten und wie sich das verschiebt zwischen An- und Entspannung. Hier habe ich mich aber zurückgenommen und einen Bildstil genutzt, den es schon gibt, also das Halbporträt mit Hintergrund. Aber wie so oft bei solchen Projekten suche ich die nicht, sondern die finden mich.

Wie muss man sich das beim Alexanderplatz vorstellen?

Ganz unspektakulär. Ich war am Alexanderplatz unterwegs und merkte, dass da so viel passiert. Dass es da diese Szene gibt, in der was Besonderes, ganz was Eigenes geschieht. So vielfältig dieses Phänomen Alexanderplatz ist, so unterschiedlich sind die Menschen dort. Schon beim ersten Fotografieren habe ich gemerkt, dass da etwas ganz Neues entsteht. Großstädtischer Hintergrund, menschenleer, der sich nicht in den Vordergrund schiebt, sondern für Ruhe sorgt, nur einen Raum aufmacht und dann die jeweilige Person, die total präsent ist. So verschränkt sich hier das Persönliche mit etwas Allgemeingültigen.

Entstanden ist daraus der Bildband „Alexanderplatz“, den Sie in der kommenden Woche in Potsdam vorstellen. In „Alexanderplatz“ sind aber nicht nur Bilder von Ihnen veröffentlicht, sondern auch Texte und Interviews. Hat Ihnen ab einem bestimmten Punkt bei dieser Arbeit das Foto allein nicht mehr gereicht?

Urprünglich wollte ich mit einer Journalistin zusammenarbeiten, aber die ging für ein Projekt nach Lateinamerika. Also habe ich das selbst gemacht, bin sozusagen ins kalte Wasser gesprungen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie man da vorgeht, und habe alle möglichen Fehler gemacht, habe den Leuten bei den Interviews oft schon die Antwort in den Mund gelegt. Aber es wurde immer besser.

Die Texte und Interviews sind nie einem Bild zugeordnet. Vieles bleibt in der Schwebe, der Betrachter wird gezwungen, genauer hinzuschauen und eigene Zusammenhänge herzustellen.

Bei der Arbeit an den Texten habe ich gemerkt, dass das ja Kurzgeschichten sind. Diese Texte erweitern und verstärken die Bilder, manchmal bilden sie auch einen Kontrast. So bleibt das auch oft rätselhaft. Und bei manchen Texten muss man sich an ein Bild erinnern, das vielleicht zehn Seiten vorher zu sehen war.

Wie ist Ihnen der Zugang zu dieser Szene am Alexanderplatz gelungen?

Das würde ich gern im Unklaren lassen, weil das für die Geschichte dieses Buchs einfach besser funktioniert. Aber so viel sein verraten: Der tiefe Einstieg kam daher, dass ich in einer Band gespielt habe.

Sie spielen auf Ihre Zeit als Gitarrist bei der Band 44 Leningrad an?

Ja, so wurde ich in der Runde vorgestellt: „Also das ist Göran, der war Gitarrist bei 44 Leningrad, wenn ihr wisst, was das heißt. Der ist in Ordnung und der wird hier ein paar Fotos machen.“

Gab es auch mal kritische Situationen?

Die gab es. Die Skepsis ist ja schon sehr groß. Einige haben immer das Gefühl, verraten zu werden. Wer weiß, was da in der Kindheit war. Ich musste immer schauen, ob jemand da ist, der mich schützen kann. Sonst habe ich einen großen Bogen gemacht. Manche sind eben heftig drauf. Die wurden aber auch zurechtgepfiffen: „Du kriegst gleich eine aufs Maul, wenn du hier weiter Stunk machst. Das ist Göran, fertig, aus.“

Wie lange haben Sie am Alexanderpaltz fotografiert?

Dreieinhalb Jahre. Das letzte Bild entstand im vergangenen Herbst.

Wie oft waren Sie in den dreieinhalb Jahren auf dem Alexanderplatz unterwegs?

Ich war zwei Jahre lang einmal in der Woche da. Und wenn ich mal eine Woche nicht da war, kamen schon die Fragen, wo ich so lange war. Nach und nach habe ich die Abstände vergrößert.

Wie würden Sie die Szene beschreiben?

Das Bedauern muss man rausnehmen. Zuerst sehe ich die riesengroße Freiheit. Das ist ja kein Unterschichtenphänomen, da rennen auch welche aus bürgerlichem Haus rum. Die da sind, sind aber frei im Kopf. Die haben auch keine andere Wahl, als ihr eigenes Leben zu leben. Die lassen sich nicht mehr demütigen, die überleben durch Schnorren und Kleinkriminalität. Die wollen keine Opfer sein, sondern selbstbewusst. Bei aller Zerstörung gibt es einen individuellen Kern. Das hat mir imponiert. Wie weit die trotzdem noch sie selbst sind. Aber zum Teil leben die nicht lange, und oft sehen sie auch viel älter aus, als sie sind.

Aber sie brauchen diese eingeschworene Gemeinschaft dort am Alexanderplatz?

Die haben sogar einen genauen Blick für Leute, die ähnlich wie sie sind. Die haben ein Gespür, das ich auch langsam habe. Nehmen wir ein Beispiel: Coming-out in einer westdeutschen Kleinstadt etwa. Die müssen da weg, nehmen einfach einen Zug und ab in die große weite Welt. Und die große weite Welt ist Berlin. Die steigen am Alexanderplatz aus und der ist dann wie ein Auffangbecken. Sozialarbeiter meinen oft, dass es denen dann in der ruppigen Atmosphäre am Alex besser geht, als wenn sie einfach irgendwo landen. Da ist auch immer die Frage, wann man da den Absprung schafft, und manche schaffen den nie, die sind seit zehn Jahren da. Oder zwischendurch im Knast. Für micht hat sich durch diese Erfahrung auch der Blick geöffnet, weil die Themen alle betreffen: das Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung und das Bedürfnis nach Rausch. Manche haben dann eine Wohnung, lassen im Winter zehn Punks mit Hunden in einer Einraumwohnung schlafen und fliegen deshalb wieder raus. Aber diese Obdachlosigkeit ist eher im Kopf, als eine Art Heimatlosigkeit, auch in der Gesellschaft, im Herzen.

Ist Ihnen von Anfang an bewusst gewesen, dass dieses Projekt so lange dauern kann?

Gar nicht. Am Anfang hatte ich den Plan, drei Monate lang eine Porträtserie zu machen. Ich bin dann aber immer tiefer da hineingeraten und irgendwann war das Vertrauen da, sodass es nachts um zwölf noch zu guten Bildern gekommen ist. Dann kamen auch die Geschichten. Ich musste immer weitermachen, mehr erfahren. Dann kam auch der Wunsch, das alles in ein Buch zu bringen. Immer wieder dachte ich, jetzt bin ich fertig, und es kamen trotzdem noch gute Bilder und Geschichten dazu. Je vertrauter man wurde, umso besser wurde alles.

Wie weit haben Sie das alles an sich herangelassen? Das sind ja harte Lebensgeschichten, die Ihnen dort erzählt wurden.

Es gab bei mir einen regelrechten Sog nach den Geschichten, da kam ein Interview nach dem anderen. Aber irgendwann tat mir das nicht mehr gut. Ich hätte nie gedacht, dass sich so viele Schicksale an diesem Platz ballen. Auch wenn man das von einigen gar nicht gedacht hätte, kam es immer wieder zu den Themen Missbrauch und Verlassensein. Alle hatten ein ähnliches Schicksal. Irgendwann dachte ich, das kann nicht sein, das ist vielleicht Quatsch und ich muss das als Literatur sehen. Aber als ich mit den Sozialarbeitern vom Platz geredet habe, meinten die, es tue ihnen ja auch leid, aber die Geschichten stimmen. Ich habe dort aber auch ganz oft von meinen Kindern erzählt, damit die Verwechslung der Rollen nicht zu stark wird und ich trotzdem ein anderer bleibe.

Haben Sie sich vor allem auch für die Porträtfotos entschieden, weil Sie bestimmte Klischees von Punks und Obdachlosen nicht bedienen wollten?

Ja, denn das wäre ja auch schade. Es gibt nur ein großes Bild, das mit dem Schlafsack. Das hat eine ulkige Form, wie ein Wurm. Und ich bin nie mit auf Platte gegangen, also draußen übernachtet. Das habe ich abgelehnt, ich habe ja Familie. Aber das wurde akzeptiert: Familienpapi kann ja nicht mit. Aber ich war trotzdem sehr tief drin. Mehr wollte ich auch nicht.

Sind über die dreieinhalb Jahre auch Freundschaften am Alexanderplatz entstanden?

Freundschaften würde ich nicht sagen. Aber eine tiefe Beziehung. Ich freue mich, wenn ich die auf dem Platz sehe. Mit manchen schreibe ich mir, die erzählen mir dann von ihrer Therapie.

Wann kam der Punkt, als die Leute dort in Ihnen vor allem Göran sahen und nicht mehr den Fotografen?

Der kam sehr schnell. Ich hatte ja immer meinen Rucksack mit der Kamera und neuen Bildern bei. Jeder, den ich porträtierte, bekam zehn Bilder, das war die Abmachung. So kannten sie ja die Bilder und wussten immer den aktuellen Stand. Und jeden, den ich fotografiert hatte, dem hatte ich ein Buch versprochen.

Wie haben die Leute vom Alexanderplatz auf das Buch reagiert?

Stolz. Einer hatte mir am nächsten Tag eine Mail geschrieben, dass er gerade am Alex sitzt und ihm eine Träne aufs Buch fällt. Das war ergreifend. Auch dass es eine Wertschätzung dafür gibt. Einigen wollte ich das Buch schicken, aber davon wurde mir abgeraten, weil die gerade versuchen abzuschließen und rauszukommen. Und dann gab es die Ausstellungseröffnung am Lützowplatz, das war unglaublich: 120 Leute Kunstpublikum, plötzlich ging da die Tür auf – und 25 Leute vom Alex reiten da mit Schnaps, Hunden und Gebrüll ein. Die haben den Raum für sich beansprucht.

Und wie hat sich da das Kunstpublikum verhalten?

Viele hielten das für ein einzigartiges Erlebnis, das nie wiederkommen wird. Trotzdem war es eine angespannte Situation, die waren ja auch alle ganz gut besoffen, da hätte eine falsche Bemerkung gereicht für eine blutige Nase. Aber es ist nichts passiert. Mir wurde dann erzählt, dass sie sich unterhalten hätten, und einer vom Alex gesagt hat: „Wisst ihr was? Der Göran ist genauso ein Assi wie wir! “ Das war als Lob gemeint.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Göran Gnaudschun stellt seinen Bildband „Alexanderplatz“ (Fotohof edition Salzburg, 30 Euro) am Samstag, dem 12. April, um 22 Uhr in der Reihe „nachtboulevard“ in der Reithalle in der Schiffbauergasse vor. Die Schauspieler Meike Finck und Christian Uibel interpretieren musikalisch Jens-Rachut-Texte. Der Eintritt kostet 6 Euro

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