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Kultur: Durchs Gestern schleichen

Lesung von Angelica Domröse und Uwe Eric Laufenberg am Einsteinturm

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Lesung von Angelica Domröse und Uwe Eric Laufenberg am Einsteinturm Von Matthias Hassenpflug Beide sind Gaben des Geistes und der Fantasie. Doch irgendwann ist die Wissenschaft von der Kunst abgerückt. Der Fortschritt machte diesen Schritt nötig. Seitdem sind es seltene Ereignisse, wenn die Kunst und die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis eine Sprache sprechen. Denn es sind dies oft die wirklich großen Errungenschaften der Forscher, in denen die Gesetze der Harmonie durchscheinen. Der Einsteinturm auf dem Telegrafenberg ist ein Symbol dieser Einheit aus Ästhetik und Erkenntnis: Kunst und Wissenschaft verschmelzen zu einem Ideal. Am Sonntag, zur Matinee an dessen Fuße, rückten Angelica Domröse und Uwe Eric Laufenberg nun auch die Literatur – das Wort – in die Nähe des weltbekannten Wissenschaftssymbols. Der Vorplatz und die Wiese vor dem Mendelsohn-Bau haben sich von dem stillen Rückzugsort für Denker in einen mittäglich trägen Biergarten verwandelt, die Hitze drückt die Besucher in die Schatten. Kinder spielen an den Mauern und Treppen des Turmeingangs. Jeden um die Zukunft besorgten Forscher wird dieses fröhliche sonntägliche Leben mit Freude erfüllt haben. Besuchergruppen, eingeladen durch den Potsdamer und Berliner Wissenschaftssommer, bevölkern den Telegrafenberg und rauben ihm für kurze Zeit seine Schläfrigkeit und Abgeschiedenheit. Das Trio „Kitchengrooves“ spielt Cooljazz zur Abkühlung. Die Schauspielerin und der Intendant, die beide in der kommenden Spielzeit in Potsdam zusammen arbeiten, lesen abwechselnd die kurzen Traumbeschreibungen „Und immer wieder die Zeit – Einstein“s Dreams“, die der Physiker und Schriftsteller Alan Lightman verfasst hat. Als Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology, dem weltberühmten MIT, weiß Lightman über die Unmöglichkeit einer sprachlichen Darstellung von Einsteins Relativitätstheorie. Als Autor nimmt er sich die Fantasie, die verschiedenen Vorstellungen von dem Phänomen „Zeit“, inklusive aller Absurditäten und Paradoxien, in Traum- und Gedankenexperimenten durchzuspielen. Lightman lässt Einstein 1905 in Bern in seinem Büro im Patentamt Büroschlaf halten, und jedes Mal träumt er von einer Welt, in der ein anderes Zeitgesetz gültig ist. Was ist, wenn die Zeit kreisförmig verlaufen würde und in sich gekrümmt wäre? Alles würde sich wiederholen, jeder verstohlene Blick, und auch der letzte Kuss, Hochzeit, Zusammenleben, Krankheit und Krebstod. Und die, die alles schon mehrfach durchlaufen hätten, würden an ihrem Stöhnen zu erkennen sein. Angelica Domröse liest unaufgeregt, unexaltiert und ohne Schauspielerei. Sie und Laufenberg geben den philosophie-nahen Sätzen Lightmans nur genug Kraft, um mit der leichten Brise den Weg über die Anhöhe zu den Zuhörern zu finden. Was ist, wenn die Zeit einem Wasserlauf gleicht, der ab und zu seinen Lauf verändert und dadurch einige Menschen plötzlich in der Vergangenheit lebten? Diese Menschen würden auf Zehenspitzen gehen, denn sie wollten um alles in der Welt verhindern, dass sich durch ihr Verhalten die Zukunft ändert. Was, wenn die Zeit gleich einem dreidimensionalen Gebilde wäre, so dass es immer drei Wirklichkeiten auf einmal gäbe? Oder wenn die Zeit, einer Geraden gleich, kein Wissen um eine Zukunft möglich machte? Man kann Lightman vorwerfen, dass er sich der Figur des Nobelpreisträgers bedient, um auf seiner Popularitätswelle mitzuschwimmen – das Einsteinjahr zeigt anschaulich die Vielfalt der zum Teil haarsträubenden Instrumentalisierung des Wissenschaftlers. Seine kleinen Kunststücke über die Zeit kämen gut ohne das mitgelieferte, völlig fiktive Berner Lokalkolorit aus. Auf alle Fälle beschreibt Lightman aber die Vielfalt menschlicher Vorstellungskraft, die Gabe, die Zeit und alles Drumherum sich auszudenken. Was wäre wenn? Das bestimmt nicht die Wissenschaft, und Einstein hat damit auch nichts zu tun. Das ist und bleibt der Bereich der Kunst.

Matthias Hassenpflug

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