
© Thomas Aurin/Hans Otto Theater
Von Heidi Jäger: Ein leises Gehen
Laufenbergs Abschieds-Inszenierung von Tschechows „Kirschgarten“ beschwor das „alte“ Theater
Stand:
Die Tür fällt eher sanft ins Schloss. Ganz im Sinne Tschechows. Kein lautes Getöse, eher die Lethargie einer Abschiedssinfonie bis in die feinsten Töne ausspielend. Uwe Eric Laufenbergs letzte Inszenierung am Hans Otto Theater vertraut ganz dem Text, der den „Kirschgarten“ auch hundert Jahre nach seiner „Pflanzung“ erblühen lässt. Wie zu Tschechows Zeiten leiden wir mit, wenn er abgeholzt, die Eigentümer Abschied nehmen von ihrer Vergangenheit, von ihrem bisherigen Leben. Erst wenn sie das letzte Mal die Wände des Hauses betrachten, das versteigert wird, erkennen sie deren Schönheit. Erst im Verlorengehen offenbart sich der wahre Wert.
Das Bühnenbild von Matthias Schaller ist wie ein großes Gemälde, das den Glanz des russischen Landguts noch einmal in ein warmes Licht taucht, nicht anders die Kostüme von Jessica Karge. „Früher ist dort mal auf großem Fuße gelebt worden, das muss auch an der Einrichtung zu spüren sein“, schrieb Tschechow 1903 in einem Brief. Überhaupt scheinen die Gedanken des Autors zu seinem letzten Stück der Potsdamer Inszenierung als Regieanweisung gedient zu haben.
Großzügig und doch merkwürdig leer wirkt das einstige Kinderzimmer mit dem eingestaubten Schaukelpferd, das keinen forschen Reiter mehr trägt. Der Blick hinaus auf das leuchtende Weiß des Blütenmeeres überstrahlt die Sehnsucht. Und den Schmerz. Am nahen Fluss war es, wo der kleine Sohn der Gutsbesitzerin Ranjewskaja den Tod fand. Sie floh vor dem Schmerz, versuchte sich im turbulenten Paris zu trösten. Doch auch in Frankreich war ihre Seele am Verhungern. Sie wurde von dem Geliebten ausgenommen und sitzengelassen, versuchte, sich zu vergiften. Doch die Ranjewskaja hat die Gabe, zu verdrängen. Nun kehrt sie zurück an den Ort ihrer Kindheit, den Ort ihrer Trauer und der leisen Hoffnung.
Angelica Domröse spielt die scheinbar alterslose, großzügige, verschwenderische, lebenshungrige Witwe mit feinnervigem Esprit und charismatischer Hingabe. Immer wieder bricht sie ihre Rolle zwischen Humor und Melancholie, eigener Verletzlichkeit und dem hemmungslos ehrlichen Verletzen anderer. „Alt bis du geworden“, sagt sie zu Firs, dem greisen Diener, der nur antwortet: „Ich lebe auch schon lang.“ Günter Rüger verschmelzt mit seiner Rolle des Firs in geradezu symbiotischer, nahe gehender Weise. Gerade in solch kleinen Momenten entfaltet sich auch das Komödiantische wie ein zarter Schmetterling. Nicht immer will es gelingen, diese Gratwanderung zu nehmen, so dass sich gerade im ersten Akt auch Längen einschleichen: mehr als es dem notwendigen Einfangen der Tschechowschen Lethargie gut tut. So hätte man dem ewigen Pechvogel Jepichodow (Matthias Hörnke) mehr Facetten gewünscht. Er bleibt die Witzfigur, die im Selbstmitleid erstickt. Caroline Lux als Dienstmädchen Dunjascha gelingt es indes herrlich überdreht durch die Welt der Herrschaft zu tanzen: selbstbewusst und sehnsuchtsvoll nach dem eigenen Glück greifend.
Wie die Wärterin eines Gefängnisses mutet Warja an, die etwas einfältige Adoptivtochter der Ranjewskaja. Mit klirrendem Schlüsselbund an der Hüfte nimmt sie ruhelos die Wege der weit in die Tiefe gehenden Bühne: brüllt wie ein Tiger im Käfig, der das Zubeißen verlernt hat. Man wünschte der Darstellung durch Chris Pichler noch etwas mehr innere als äußere Bewegung, die zum Ende vielschichtiger wird. Ulla Schlegelberger gibt ihrer Anja, der leiblichen Tochter der Ranjewskaja, den Reiz der unbeschwerten Jugend: frisch, unverdorben, voller Hoffnungen. Nur wenn sie am Ende der Mutter Mut zuspricht, trotz des verlorenes Gartens nach vorne zu schauen, wirkt das gestelzt und mehr gesprochen als gefühlt.
Schön indes die Szenen an der Seite von Henrik Schubert, der als ewiger Student und Papierrevoluzzer die Besitzstände anprangert. „Ganz Russland ist unser Garten“, proklamiert er die neue Zeit. Alle sollen arbeiten, zupacken. Doch für die Liebe ist er nicht bereit.
So wie auch nicht der Kaufmann Lopachin, dem Michael Scherff eindrucksvolle Bodenhaftung gibt. Er, der Sohn von Bauern, der geprügelte Jambulai, dessen Vater und Großvater Sklaven auf dem Gut waren, ist nun der neue Herr. Er kann zwar kaum lesen, dafür aber rechnen. Er nimmt die Witterung auf in eine „lohnenswerte“ Zukunft: wo Datschen bauen einträglicher ist, als Kirschen pflücken.
Während das Grundstück und die Kirschbäume unter den Hammer kommen, feiert die Familie ihren letzten großen Ball, wie auf der sinkenden Titanic. In der Choreografie des ausgelassen spritzigen Tanzes wirken sie allerdings in dem degenerierten Hoppelhäschen-Gehüpfe unnötig albern. Umso eindrücklicher die Szene, als Angelica Domröse, eingehüllt in grober Decke, innere Einkehr hält. Scheinbar um Jahrzehnte gealtert. Hinter ihr tanzen die Schatten den Reigen der Vergänglichkeit. Während sich der Vorhang zum letzten Akt schließt, erklingt unheilvoll Musik.
Wie ein Häufchen Unglück sitzt schließlich die ganze Familie zusammengekehrt auf leerer Bühne: aus der alten Welt gefallen. Auch Ranjewskajas Bruder (in der erstaunlichen Bühnenpräsenz von Helmut G. Fritsch) ist nur noch ein ausgehöhlter Baum. Dann hört man die Axtschläge. Die Holzfäller gehen ans Werk. „Mein Leben, meine Jugend, mein Glück. Lebe Wohl“, sagt die Ranjewskaja. „Früher habe ich nie die Wände richtig angeguckt, jetzt sehe ich sie mit so einer zärtlichen Liebe.“ Dann schließt sie die Tür hinter sich. Ein großer leergefegter Raum. Nur Firs, der Greis, betritt noch einmal die Bühne: Nein er wankt, schleicht wie der Tod. „Sie haben mich vergessen. Macht nichts“, sagt er leise und sinkt zusammen. Die Tür nach draußen ist für ihn verschlossen. Ein großer Moment. Dank Günter Rügers.
Der Beifall am Ende ist freundlich, mit einigen leisen Bravi. Doch ohne Euphorie. Auch nicht für den scheidenden Intendanten, der sich in seinem „Abgesang“ noch einmal ganz dem „alten“ Theater verpflichtet fühlte. Und bewies, dass es weiter seine Berechtigung hat. Vor allem, wenn das Futter für Schauspieler so genüsslich ausgekostet wird.
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