Kultur: Ein Lied für meinen Vater
Lesung bei Rüss aus einem bewegenden Buch
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In Israel ist Ella Milch-Sheriff eine bekannte Komponistin, in Potsdam wurde sie bekannt, als ihr Musikwerk „Dark am I “ die Vocalise im vergangenen November eröffnete. Jetzt kehrte Ella Milch-Sheriff zurück, um ihr Buch „Ein Lied für meinen Vater“ vorzustellen.
Auf Einladung des Brandenburgischen Literaturbüros waren rund siebzig Zuhörer in die Räume der Druckerei Rüss gekommen. Unter die Haut gingen schon die kurzen Ausschnitte, die Ella Milch-Sheriff gemeinsam mit ihrer Ko-Autorin Ingeborg Prior vorlas. Ihr 1907 geborener Vater Dr. Baruch Milch, ein Frauenarzt aus Galizien, emigrierte, nachdem er die Vernichtung der Juden erlebt und überlebt hatte, 1948 nach Israel. Dort wurde seine Tochter Ella geboren, eine „Sabra“, eine 1954 in Israel geborene Jüdin. Wie sehr noch ihre eigene Kindheit von den grauenhaften Erlebnissen ihrer Eltern beeinflusst war, bemerkte sie erst beim Lesen der Aufzeichnungen ihres Vaters. Jahrelang hatte sie unter der gewalttätigen Tyrannei ihres Vaters, unter der düsteren Atmosphäre im Elternhaus gelitten. Doch weder hatte sie nachgefragt, noch hatten ihre Eltern etwas von ihren Erfahrungen erzählt. Als Jugendliche wollte Ella Milch-Sheriff, wie sie in der kurzen, angeregten Diskussion sagte, nichts mit der Vergangenheit zu tun haben, sondern eine eigene Zukunft schaffen. Ihr Weg war die Musik, zunächst sogar gegen den Willen der Eltern, die das nicht für einen soliden Beruf hielten. Dass jedoch die Leidensgeschichte ihres Vaters in die Welt gelangte, wurde nicht zuletzt durch ihre Musik ermöglicht.
In seinem Testament hatte Baruch Milch die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen von seinen Töchtern gefordert. Nach den während der Verfolgung geschriebenen Originalmanuskripten hatte er Zeit seines Lebens vergeblich gesucht und dann alles noch einmal aufgeschrieben. Zwei Monate nach seinem Tod meldete sich eine polnische Stelle mit den Originalschriften. Diese authentischen Zeugnisse des Holocausts verwendete Ella Milch-Sheriff für eine Kantate mit dem Titel „Can heaven be void?“, die 2003 in Berlin aufgeführt wurde. Die Frage, ob der Himmel leer sei, wurde von ihrem Vater eindeutig bejaht. Nachdem sein dreijähriger Sohn, seine erste Frau und zahlreiche Verwandte von den Deutschen ermordet worden waren, er die grausamsten Verbrechen erlebt hatte und sogar mitschuldig geworden war, existierte Gott für ihn nicht mehr.
In dem Buch „Ein Lied für meinen Vater“ wechseln erschütternde Passagen aus dem väterlichen Tagebuch mit Ella Milch-Sheriffs Erinnerungen. Ihre Identität als israelische Jüdin und Musikerin wird im schwer beschädigten Leben ihres Vaters gespiegelt. Die spannungsvollen Erzähllinien zwischen Vater und Tochter zeigen nicht nur, wie eng Gegenwart und Vergangenheit miteinander verflochten sind, wie Trauma und Gewalt weitergegeben werden. Deutlich wird vor allem, welch tiefe Wunden der Holocaust noch in der zweiten Generation der Überlebenden hinterlassen hat. Dass es zu diesem Buch gekommen ist, verdankt Ella Milch-Sheriff ausgerechnet einer Deutschen. Die Journalistin Ingeborg Prior traf die Musikerin aus Anlass eines Interviews und konnte sie von der Publikation überzeugen. „Bin ich hier, um Rache zu erfüllen oder eine Hoffnung zu schaffen?“, fragt Ella Milch-Sheriff in der Diskussion. „Ich glaube beides“, beantwortet sie ihre Frage, „Wir müssen daran erinnern, davon sprechen, durch Kunst, Literatur, Malerei, Musik“. So ist „Ein Lied für meinen Vater“ nicht nur eine würdige Erinnerung, sondern ein eindringliches Mahnmal für die Zukunft geworden, aus dem – nicht nur – junge Leute sehr viel lernen können. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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