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Von Heidi Jäger: Ein Mal ganz groß

Knut Elstermanns Buch „Früher war ich Filmkind. Die DEFA und ihre jüngsten Darsteller“

Stand:

Diese Zartheit. Dieses Durchsichtige. Aber auch dieses Kantige. Petra fiel den Kinderbetreuerinnen der DEFA, Karin Müller-Grunewald und Karin Ludwig, sofort ins Auge, als sie sich auf einem Berliner Schulhof nach der Hauptdarstellerin für die Rolle „Sabine Kleist, 7 Jahre“ umschauten. Als die Frauen dem kleinen Mädchen von der Geschichte, in der sie vielleicht mitspielen würde, erzählten, fing es an zu weinen. Es verstand nur Kinderheim und glaubte ernsthaft, dass man es dort hinbringen wolle. Der Film von Helmut Dziuba aus dem Jahr 1982 schildert den schweren Verlust eines Mädchens, das bei einem Autounfall ihre Eltern verliert und ins Kinderheim kommt. Das Kind reißt aus und kriecht in einem Abrisshaus unter. „Größer kann die Einsamkeit nicht sein, verlorener kann ein Kind sich nicht fühlen als Sabine in dieser verlassenen Wohnung“, schreibt Knut Elstermann in seinem Buch „Früher war ich Filmkind. Die DEFA und ihre jüngsten Darsteller“, das gerade im Verlag Das Neue Leben Berlin erschienen ist. Es vereint Porträts von 14 einstigen Filmkindern: Vom Kleinen Muck über Alfons Zitterbacke bis zur Dicken Tilla und eben Sabine Kleist.

Inzwischen ist Petra Lämmel, die die Sabine darstellte, 37 Jahre und selbst Mutter. Sie erinnert sich in dem Gespräch mit Knut Elstermann, das der RBB-Filmkritiker mit viel Wärme, profundem Wissen und feinnervigem Nachspüren führte, dass ihr unsicheres Kauen auf der Unterlippe, dieses Nesteln am Kleid während des Drehens nicht gespielt gewesen sei. Der Regisseur nutzte geschickt ihre Ängstlichkeit in der anfangs fremden Filmwelt. Aber er versuchte auch, sie immer wieder emotional zu stützen.

Das Buch von Knut Elstermann will viel und verhebt sich dabei keineswegs. Es beschreibt die Atmosphäre bei den Dreharbeiten, lässt in Kinderseelen blicken, zeigt das kluge und beschützende Händchen der Regisseure, liefert Filmkritik und Zeitgeschichte, aber vor allem einfühlsame Porträts, die bis ins Heute reichen. Bei den meisten der Laiendarsteller wirkte die Arbeit vor der Kamera lange nach, auch wenn die wenigsten Schauspieler wurden. Petra Lämmel sah ihre „Sabine“ über 50 Mal und nahm immer wieder an Filmdiskussionen teil. „Sie war wirklich etwas Einmaliges, weil sie nichts Gefälliges hatte“, sagte der Regisseur Helmut Dziuba, der für Sabine etwa 3500 Mädchen angesehen hatte, bis endlich Petra auf dem Schulhof entdeckt wurde. Er besuchte die Eltern seiner kleinen Darstellerin und betrachtete das Kinderzimmer: als untrüglichen Ausdruck der Familiensituation. Als die Eltern nach der Premiere zu ihm sagten: „Was haben sie aus dem Kind nur herausgeholt!“, antwortete er: „Es war alles da.“ Der mit Kinderdarstellern erfahrene Regisseur wusste, dass man den inneren Rhythmus eines Kindes nicht verändern kann. „Man darf sich die Kinder nicht unterwerfen, sonst bedienen sie dich und nicht die Figur.“

Es gab bei der DEFA keine „Kinderstars“, vielmehr das ungeschriebene Gesetz, sie nur ein einziges Mal in einer Hauptrolle zu besetzen. Der Regisseur Bernd Sahling, den Knut Elstermann im Vorwort zitiert, sagte, dass der Spagat zwischen Schule, Familienalltag auf der einen Seite und dem Drehstress, der Berühmtheit, dem plötzlich vielen Geld auf der anderen – die Kinder bekamen etwa 40 Mark pro Drehtag – nicht alle verkraften würden. „Außerdem fangen sie irgendwann an, das zu wiederholen, was sie im letzten Film gemacht haben, weil sie kein künstlerisches Handwerkszeug besitzen.“ In der Einmaligkeit des Spiels lag zugleich die große Authentizität der Filmarbeit, die ganz unterschiedlich nachwirkte.

Wie andere Filmkinder spürte auch Petra Lämmel Neid bei ihren Altersgefährten. Und sie vermisste die Beachtung beim Filmen, sehnte sich zurück nach dem Stab. Der Film hinterließ tiefe Spuren. Nach der dritten Klasse packte sie im Ferienlager plötzlich eine panische Angst, ihre Familie sei tödlich verunglückt. Dennoch will sie die Filmarbeit nicht missen, sagt sie auch heute. Die Zahntechnikerin erzählt, wie nach der Wende die Clubszene ihr Zuhause war und sie fast aus der Bahn warf. Die Rettung war Lennert, ihr heute elfjähriger Sohn. „Durch den Film kann ich einen Kontakt zu dem Mädchen in mir herstellen, den ich in den heftigen Jahren der Krise längst verloren glaubte.“ Sie würde indes zögern, böte man ihrem Sohn eine Rolle an.

Wie Helmut Dziuba rückblickend weiß, habe die DEFA ideale Bedingungen geboten, Kinderfilme zu drehen. „Trotz aller politischen und bürokratischen Einschränkungen.“ Wenn Knut Elstermann allerdings schreibt, dass der Kinderfilm „nie im Brennpunkt der politischen Aufmerksamkeit stand“ und dadurch konfliktreiche und wirklichkeitsnahe Stoffe eher möglich waren als in den Filmen für Erwachsene, gehört wohl die Fußnote dazu: zumeist. Denn „Erscheinen Pflicht“ (1984), in dem es um einen geschassten Parteifunktionär und die um sich greifende Resignation im Lande ging, wurde zwar im Einvernehmen mit der DEFA-Direktion gedreht, aber nur kurzzeitig aufgeführt. Und Rolf Losanskys „Abschiedsdisco“ schmorte zehn Jahre, bis er kurz vor der Wende das Thema Umweltzerstörung auf die Leinwand bringen durfte. Unwidersprochen bleibt indes Elstermanns Fazit, dass die „Kinderfilm-Wüste“ Deutschland durchaus etwas mit den abgebrochenen DEFA-Traditionen zu tun habe.

Auch Freya Klier war anfangs nicht begeistert, als ihre elfjährige Tochter Nadja die Titelrolle in „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“ spielen sollte und sie von dem zu erwartenden Arbeitspensum überfordert sein könnte. Doch die Tochter packte die Herausforderung souverän und die Mutter hegt im Nachhinein keine Zweifel, dass es das Dissidenten-Umfeld war, in dem Nadja so gut gedieh und in dieser freien, bunten und antiautoritären Szene mehr Selbstvertrauen mit auf den Weg bekam als viele ihre Altersgefährten. Bei allen Härten gefiel Nadja die Filmarbeit sehr, die Kulissen, die Scheinwerfer, das Schminken. Und selbst die kratzenden Klosterkleider ertrug sie, die das Unbehagen in der düsteren Abtei wirklich spüren ließen, in die sie nach ihrem freien Leben in einem heruntergekommenen Schloss gesteckt wurde. Und sie hatte auch Spaß an den etwa dreihundert buntgescheckten Ratten, die eigens für den Film im Berliner Tierpark gezüchtet und in langer Trainingszeit im Magdeburger „Institut für die Bekämpfung gesundheitsschädlicher Wirbeltiere“ dressiert wurden. Das unerschrockene Mädchen hatte ständig diese quirligen Nager in den Taschen ihres Trainingsanzugs. Nadja Klier spielte in dem Film von Jürgen Brauer eine Pippi Langstrumpf des verarmten Adels, ein Gegenbild zum disziplinierten folgsamen Kinderideal des DDR-Bildungssystems. Heute ist Nadja Klier Setfotografin. Eigentlich wollte sie sich an der Schauspielschule bewerben. Doch zwei Tage vor dem Vorsprechen wurde ihre inhaftierte Mutter zusammen mit Stephan Krawczyk in den Westen abgeschoben. Nadja wohnte anfangs bei der mit der Familie befreundeten Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, bis auch sie zur Mutter nach Westberlin gebracht wurde.

Natürlich darf in einer Hommage an den Kinderfilm nicht das meistgesehene Werk der DEFA fehlen, das elf Millionen Zuschauer begeisterte: „Der kleine Muck“. Für diesen in den märkischen Sand gesetzten Kulissenzauber des Orients gewann Regisseur Wolfgang Staudte den liebenswert arglosen Thomas Schmidt. Diesem 2008 an Leukämie verstorbenen „Filmkind“ ist das atmosphärisch dicht gewobene Buch gewidmet. Knut Elstermanns Verneigung vor den „kleinen Großen“ der DEFA ist aufrichtig und erfüllt von großer Sympathie.

Knut Elstermann: Früher war ich Filmkind. Die DEFA und ihre jüngsten Darsteller.“ Verlag Das Neue Berlin, 224 Seiten, mit vielen farbigen Abbildungen, 19,95 Euro. Buchpremiere ist am morgigen Donnerstag, 20 Uhr, im Kino „Babylon“ Berlin

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