zum Hauptinhalt
Zerstörtes Leben: Andrej (Sasha Savenkov), streift durch die Todeszone um den havarierten Reaktor in Tschernobyl. Er ist auf der Suche nach Verwertbarem – und nach Heilung für seine geschundene Seele.

© Marcus Schwenzel

Kultur: Ein zerstörtes Kind

Der Potsdamer Regisseur Marcus Schwenzel drehte sein Tschernobyl-Drama „Seven Years of Winter“ in der Ukraine, beim Filmgespräch im Thalia-Kino erzählte er, warum ihn die Katastophe bis heute bewegt

Von Sarah Kugler

Stand:

Einsam ragt ein Riesenrad aus der kahlen Landschaft hervor. Einst stattlich und bunt steht es nun knöchern und ausgehungert in einer Geisterstadt. Nur noch ein Skelett, ein Schatten des einst da gewesenen bunten Lebens. Ein Skelett neben vielen anderen: Daneben starren verlassene Häuser mit weit aufgerissen Augenhöhlen vor sich hin und ein Schwimmbad verwest mit verdrehten, gebrochenen Knochen. Es ist ein düsteres, ein trostloses Bild, das Marcus Schwenzel in seinem Kurzfilm „Seven Years of Winter“ zeichnet. Heute Abend um 23.40 Uhr wird er auf arte gezeigt.

Vier Jahre nach der Katastrophe in Tschernobyl schickt der Hehler Artjom (Roman Knizka) den verwaisten Andrej (Sasha Savenkov), den er auf der Straße aufgesammelt hat, in die nuklear verseuchte Umgebung des Reaktors. Der Junge soll Pässe, Führerscheine und Dokumente aus der Todeszone herausholen, die sich auf dem Schwarzmarkt gewinnbringend verhökern lassen. Der Siebenjährige begreift nicht, wie gefährlich es ist, was er da tut. Auf seinen Streifzügen durch verlassene Wohnungen träumt er sich in das Leben der Familien, die dort einmal gewohnt haben. Immer weiter gibt er sich seinen Fantasien hin, und die lassen seine seelischen Wunden langsam heilen. Doch gleichzeitig beginnt die Radioaktivität seinen Körper zu zerstören.

Der Film war für Schwenzel, der Film in Prag studiert und jahrelang in Barcelona gewohnt hat, eine Herzensangelegenheit. „Tschernobyl hat mich schon immer sehr interessiert“, sagt er. „Das ist ein Thema, das nicht vergessen werden sollte und deswegen wollte ich diesen Film machen, auch um in Schulen aufzuklären.“ Überhaupt seien Orte die Quellen, aus denen er die Ideen für seine Geschichten ziehe, was ein weiterer Grund für die Entstehung des Films war, der auch sehr erfolgreich auf dem Northern Wave Filmfestival in Island gezeigt wurde.

Inzwischen arbeitet er schon an einem neuen Projekt. Diesmal an einem Langfilm, dessen Hauptfigur ein Junge sein wird, der, wie Schwenzel sagt, in einer Machowelt aufwächst. Die Finanzierung läuft über Crowdfunding und steht noch auf wackeligen Beinen. Trotzdem ist der Filmemacher voller Tatendrang. „Im Herbst beginnen die Dreharbeiten, so oder so“, sagt er.

Die Idee, Andrej zu seinem Protagonisten in „Seven Years of Winter“ zu machen, kam ihm über eine kleine Porzellanfigur, die er irgendwann mal in Russland gekauft hatte. Sie stellt einen kleinen Jungen dar, der einen Hund umarmt. Später bekam die Figur selbst dann auch einen Platz in dem Film - allerdings anders als ursprünglich geplant. „Ja, das ist eine lustige Geschichte“, sagt Schwenzel lachend. „Ursprünglich sollte die Figur in Andrejs Zimmer stehen, aber dann fiel sie mir beim Packen runter, der Kopf des Jungen brach ab und ich dachte nur, was für ein Mist.“ Doch aus der anfänglichen Schrecksekunde wurde dann das tragende Symbol des Films: Ein zerstörtes Kind im doppelten Sinne. In einer Szene versucht Andrej immer wieder den Kopf der Porzellanfigur an dessen Hals zu kleben - ohne Erfolg. „Er versucht quasi, sich selbst zu heilen“, so der Filmemacher. „Aber er scheitert in jeglicher Hinsicht.“

Wunderbar einfühlsam gelingt es Schwenzel, den traurigen Werdegang des Jungen in Bilder zu verpacken, die trotz ihrer Grausamkeit von unglaublicher Schönheit sind. Ein Widerspruch, den der Filmemacher selbst vor Ort erlebt hat. „Man kann das Gefühl eigentlich kaum beschreiben, das einen befällt, wenn man vor Ort ist“, sagt er. „Es ist alles so friedlich dort und gleichzeitig hat es etwas Unheilbringendes, sodass man sich dort an nichts freuen kann.“ Was Schwenzel so schwer in Worte fassen kann, gelingt ihm mit seinen Bildern in „Seven Years of Winter“ umso mehr.

Wie der Junge durch die tote Stadt wandert, am Anfang noch voller Lebensfreude mit lächelndem Gesicht und hoffnungsvoll glänzenden Augen, die alles aufsaugen, was von vergangenen Leben erzählt, fängt er in einem kalten, aber dennoch wohlig glänzendem Licht ein. Die Freundschaft zwischen Andrej und einem geheimnisvollen Hund, von dem man nicht weiß, ob er real oder bloße Phantasie ist, malt er in herrlich verwaschenen Zeitlupenbildern, die die verschobene Wirklichkeit des Jungen anzeigen.

Und dann, ganz am Ende zeigt er einen verlorenen Jungen. Eingefallenes Gesicht, graue Haut, schleppender Gang. Schonungslos deutet sich der nahende Tod an, der aber nicht gezeigt wird. „Ich wollte das Ende nicht zu melodramatisch machen“, so Schwenzel. „Ich finde, jeder sollte den Film alleine zu Ende denken.“

Weiterdenken – dazu zwingt dieser Film geradezu. Man denkt an den Jungen und sein verlorenes Leben, an seine realen Vorbilder, die die Todeszone nach verwertbaren Gegenständen durchkämmen und an die Geister der toten Stadt, die nie richtig zur Ruhe kommen in all den großen, langsam verrottenden Skeletten

„Seven Years of Winter“ läuft am Freitag, den 29. November, um 23.40 Uhr auf arte und wird am 1. Dezember um 5.12 Uhr noch einmal wiederholt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })