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ZUR PERSON: „Eine große, pinke Zuckerwatte!“

Die schweizerisch-amerikanische Jazz-Sängerin Erika Stucky über Gesundheitswahn und Seelenfutter

Stand:

Frau Stucky, das Programm, mit dem Sie nach Potsdam kommen, heißt Soulfood. Weil deftiges Essen einfach zu Weihnachten passt?

Ich bin jetzt zum fünften oder sechsten Mal eingeladen, ein Weihnachts-Tour-Programm zu machen – Potsdam gehört zu den Premierenkonzerten. Food ist mein Thema. Ich bin es so leid, immer von noch gesünderen Ernährungsplänen zu lesen: vegan, vegetarisch, flexitarisch, flutarisch, dann überall diese Kale-Smoothies – also pürierter Grünkohl. Das alles wird ja immer gleich zur Doktrin gemacht. Damit auch noch Angst geschürt: Iss gesund, sonst bekommst du Krebs! Ich habe mich gefragt, wo bleibt da das Seelenfutter? „Oh I’m Hungry“ heißt daher auch einer meiner Songs.

Was genau ist denn für Sie Seelenfutter?

Je nach Kultur und Kindheit. Für Schweizer kann das Raclette sein, oder Fondue, für einen Südstaatler Barbecue mit schweren braunen Saucen. Ich habe mir bei den Recherchen den Film „Ratatouille“ angeguckt, über diese Ratte, die für den Feinschmecker kocht, der Sterne an Restaurants vergibt – und beim „Ratatouille à la Maman“ förmlich zerschmilzt und wieder zum kleinen Jungen wird. Ich habe Bücher gefunden, mit Rezepten von Henkersmahlzeiten, die Gefangene im Todestrakt sich wünschen. Und klar, die wünschen sich in den USA alle Steak, Baked Potatoes, alles das, was sie als Kind mochten. Keiner wünscht sich Brokkoli im Wasser gedünstet, keiner Nouvelle Cuisine. Dafür viel Eiscreme.

Was würden Sie selbst sich wünschen?

So eine schöne große, pinke Zuckerwatte! Kindergelüste halt. Das, was ich damals gerne gegessen habe. Vermutlich kein Sushi, was ich erst später als Erwachsene entdeckt habe.

Wie vertont man das dann? Wie kommt das Futter in die Ohren?

Wenn es über die Ohren geht, funktioniert dieser Reflex komplizierter und mysteriöser als über den Gaumen. Beim Essen ist klar: Dieses schmeckt, jenes nicht. Beim Ohr ist das viel vielschichtiger. Ich höre einen Song aus der Kindheit, oder den Hit, zu dem ich zum ersten Mal getanzt habe – und die Tränen kommen. Wer erinnert sich nicht an den Song zum ersten Kuss? Musik geht noch viel tiefer als Essen.

Sie mixen immer extrem viele Einflüsse – Jodeln, Jazz, Soul, afrikanische Gesangsarten –, was reizt Sie daran?

Es stimmt, dass ich viel mische. Mit 20 war das nervig – man wusste schlicht nicht, in welcher Abteilung meine Alben stehen sollten, sie schienen in kein Genre zu passen. Heute mit 50 habe ich mich damit aber angefreundet. Ich bin eben ein Omnivor – auch musikalisch. Ich esse alles. Gut, bis auf Klassik vielleicht, oder Schlager.

Woran liegt das, dass Sie so vielseitig sind, so viel mischen?

Meine Stimme lässt mich fast alles machen. Ich kann gut schreien – aber auch säuseln. Ich hab eine solide Gesangstechnik und dennoch ist es auch ein bisschen genetisch: Aber ich verstehe auch gut, dass andere das mit dem Mixen nicht machen. Da muss man die richtige Attitüde dazu haben. Vivian Westwood – um ein Beispiel aus der Mode zu nehmen –, die kann rote Haare tragen, einen Bademantel und extravagante Muster – alles auf einmal. Und es sieht toll aus bei ihr. Weil sie dran glaubt, weil ihre Körperhaltung, ihre Attitüde stimmt. Bei fast allen anderen würde das aussehen wie beim Karneval. Es wird zu einer Lebenseinstellung, einer Philosophie.

Bei all den vielen Einflüssen, die Sie aufsaugen – haben Sie im Laufe der Zeit auch manches wieder verworfen, aussortiert?

Aussortiert? Ich weiß nicht. Hab ich etwas meinem Alter angepasst? Ich glaube, ich bin mutiger geworden mit den traurigen, tiefgründigen Sachen – bei solchen Songs hätte ich mit 20 am Ende noch eher einen Witz, eine Leichtigkeit eingebaut. Etwas, um die Leute wieder aufzufangen. Heute denke ich: Das Publikum hält das schon aus. Nach über drei Jahrzehnten Bühnenerfahrung weiß ich inzwischen, dass die Leute meinetwegen kommen, ich darf denen auch was zumuten. Inzwischen brauche ich auch weniger Ansagen zwischen den Songs, sondern lasse es laufen, lasse mich und meine Musiker musikalisch improvisierend die Songs verbinden.

Gibt es auch Sachen, die Sie jetzt erst entdeckt haben, musikalisch?

Beim neuen Programm gehe ich wieder ein Stück weit zurück zu meinen Wurzeln. Mit 20 bin ich jahrelang mit vier Sängerinnen und einem Bassisten getourt (The Sophisticrats) – das war meine Schule. Und eine harte. Wir haben teilweise 250 Konzerte gegeben im Jahr. In Europa und Afrika. Jetzt habe ich mit Brandy Butler wieder eine Sängerin an der Seite – das ist wie ein aneinander schmiegen, aneinander lehnen, stimmlich. Ich habe bei den Proben Flashbacks gehabt an diese A-capella Zeit. Da ist wieder etwas aus der Kiste geholt worden – und es ist über die Jahre gereift, wie ein Weinbrand.

Sie haben einmal gesagt, Schauspieler inspirieren Sie mehr als Musik. Warum?

Filme gehen bei mir runter wie Öl. Die gucke ich an, um meine Batterien wieder aufladen. Als Entspannung. CDs hören hingegen ist für mich wie Arbeit. Das ärgert mich dann selbst, wenn ich bloß darauf achte, wie der Bass zu wummerig abgemischt wurde. Bei Filmen kann ich einfacher die Stimmung aufsaugen. Kürzlich hab ich einen Film über die Beach Boys gesehen, das geht wieder. Oder einen mit Tobey Mcguire als Schachpielweltmeister – diese Konzentration, die kommt auch in meinem Hungry-Song vor. Stimmungen inspirieren mich.

Das Interview führte Ariane Lemme.

Erika Stucky, geboren 1962 in San Francisco als Tochter schweizerischer Eltern, ist Jazz- Sängerin, Performerin, Akkordeonistin. Sie mixt musikalische Stile und Jodeln wie kaum eine Andere.

Ihr musikalischer Stil mag vom krassen Kulturschock kommen: Als sie neun Jahre alt war, zogen die Eltern mit ihr ins Oberwallis in der Schweiz. Trachtenverein, D‘Bossbuebe, Trio Eugster, Radio Beromünster und Jodelchöre beeinflussten ihre musikalische Entwicklung mit.

Erika Stucky kann aber auch ganz anders. 2011 tourte sie mit „Raindogs Revisited“: Tom Waits legendäres Rain-Dogs-Album wurde darin von sieben Musikern neu interpretiert.

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