Von Heidi Jäger: Eine Träne, die zur Erde fällt
Steffen Findeisen nähert sich in einem Solo seiner Familiengeschichte und dem Leben der Dryade
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Steffen Findeisen liest in dem blauen Tagebuch seiner Mutter. Er kennt die Zeilen, und doch greifen sie ihn immer wieder an. Auch jetzt noch. Besonders eine Eintragung, die seine Mutter als junges Mädchen dem Büchlein anvertraute. Sie führt zurück in die Bombennacht vom 14. April 1945 in Potsdam: in die Straße am Kanal 58, Ecke Grünstraße. Seine Mutter war damals ein Jahr alt, als die Sirenen heulten. An der Hand ihrer Mutter lief sie in den Luftschutzbunker. „Leider war die Bombe schneller und wir wurden unter unserem Haus verschüttet. Durch mein Weinen wurde eine Familie aufmerksam. Der Mann gabelte uns aus den Trümmern. Meine Mutti war besinnungslos. Ihr Auge hing raus, denn ein“n Balken hat sie abbekommen. Eine Ärztin war in der Nähe. Sie gab meiner Mutti eine Spritze zum Absterben, da ihr dieser Fall aussichtslos erschien ...“ Die Mutter überlebte dennoch. Als man sie mit einem Mann gemeinsam ins Grab schmeißen wollte, rief sie: „Huh, deckt mich zu, mir ist kalt.“
Die Narbe an der Stirn seiner Großmutter war wohl so etwas wie ein Mahnmal in der Familiengeschichte, ein ausgeblendetes. Erst jetzt näherte sich Steffen Findeisen der Vergangenheit: auf künstlerische Weise. Dazu fuhr der Potsdamer Schauspieler und Pantomime nach Neiße, eine der ältesten Städte in Oberschlesien, die heute zu Polen gehört. Dort war die Heimat seiner Großmutter. Sie war 17, als sie sich auf den Weg in Richtung Berlin machte. Allein. Jahre, bevor die Flüchtlingstrecks gen Westen flohen. Sie floh nicht vor den Russen, sondern vor dem Waisenhaus, in dem sie nach dem frühen Tod der Eltern mit den Geschwistern lebte.
Schritt für Schritt näherte sich Steffen Findeisen Neiße, dem heutigen Nysa, an: „Ich tauchte allmählich in die Sprache ein und wollte erst die Menschen kennenlernen, bevor ich meine eigenen Spuren suchte.“ Am Ende seiner Reise ahnte er, was seine Großmutter dazu getrieben haben könnte, ihre Wurzeln zu kappen. „Sie wollte vielleicht der Enge der sehr katholischen Stadt entfliehen. Schließlich war sie eine rebellische, couragierte Frau.“ Und auch eine talentierte, die dank ihrer Nähkünste eine Anstellung bei der Ufa fand. So schneiderte sie ein Kostüm für den damaligen Filmstar Brigitte Horney, die sich mit einem Blumenstrauß und 100 Mark dafür bedankte. Auch das ist in dem blauen Tagebuch in steiler akkurater Schrift zu lesen.
Und auch von den epileptischen Anfällen, die die Großmutter nach der Bombennacht immer wieder bekam. Vielleicht war das der Grund, warum der Mann, von dem sie ihre Tochter bekam, nach dem Krieg nichts mehr von ihr wissen wollte. „Vielleicht war sie ihm mit der Narbe im Gesicht auch nicht mehr attraktiv genug“, mutmaßt Steffen Findeisen. Gesprochen wurde darüber wenig. „Der Umgang mit Emotionen ist in der Generation meiner Mutter nicht sehr ausgeprägt. Dort geht es um Arbeit und Pflicht, werden die Probleme anderer Leute mehr besprochen als die eigenen.“
Aber wenigstens dem Tagebuch vertraute sie manche ihrer Gedanken an. Und so gibt es auch die Erinnerungen an das Kinderheim Sacrow, in das seine Mutter gebracht wurde, wenn die Großmutter wegen der Kriegsverletzung wieder ihre Anfälle bekam. „Es war ein ständiger Kampf: die Mutter um ihre Tochter, die Tochter um ihre Mutter.“
Die einst leidenschaftliche Akkordeonspielerin und Ufa-Schneiderin gab nicht klein bei. Sie begann zu putzen und sich bei der Volkssolidarität zu engagieren. „Sie zeigte mir auch das erste Mal einen Toten, was mich sehr berührte. Ich hatte eine enge Bindung zu meiner 1988 verstorbenen Großmutter.“
Ihr Mut, der Heimat rigoros den Rücken zu kehren, weil sie sich eine erfülltere Zukunft ersehnte, erinnerte Steffen Findeisen an das Märchen von der Dryade, das Hans Christian Andersen 1868 schrieb. Dieses Leben einer Baum- elfe, die ihren Wald verließ, um in Paris die Weltausstellung zu sehen und dafür in Kauf nahm, zu sterben, verbindet er in seinem Theatersolo mit der Geschichte seiner Familie. „Die Dryade hat ebenso wie meine Großmutter ihre Wurzeln abgeschnitten.“
Die dritte Ebene des Stückes, das er mit Regisseur Alexander Bandilla derzeit im T-Werk erarbeitet, zeigt sein eigenes Leben: „Meine künstlerische Reise, die mich nach der Wende nach Paris, Brasilien und Bali führte. Mich beschäftigt dabei auch die Frage, was mit uns passiert, wenn unsere Sehnsüchte erfüllt sind.“ Die Dryade lebte exzessiv, bis sie „zerplatzt, verschwindet, ein Tropfen wird, eine Träne, die zur Erde fällt und verschwindet“, wie es bei Andersen steht. „Auch als Künstler braucht man etwas von dieser Besessenheit und muss aufpassen, nicht zu verbrennen. Dieses auf sich Acht geben und sich nicht zu verlieren, ist ebenfalls ein Thema unserer sehr minimalistisch angelegten Inszenierung. So schön wie das Leben der Dryade aufleuchtet, so schön ist auch das Beständige“, betont Steffen Findeisen. Und für ihn gehört vor allem die Familie dazu, mit ihren Wurzeln. Denen nähert sich auch seine eigene 19-jährige Tochter. Denn in dem Stück wird sie aus dem Off die Textstelle aus dem blauen Tagebuch der Großmutter lesen: „Als die Sirenen anfingen zu heulen ...“
„Die Dryade. Das Leben einer Baumelfe“ hat am 21..11. im T-Werk Premiere.
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