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Kultur: Einhorn im Wunderwald

Theodor Herzl bei Wilhelm II.: Palästina sollte deutsches Protektorat werden Sonderführung in Ausstellung „Der Traum vom Orient“ spürte Beziehung zu zionistischem Politiker nach

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Theodor Herzl bei Wilhelm II.: Palästina sollte deutsches Protektorat werden Sonderführung in Ausstellung „Der Traum vom Orient“ spürte Beziehung zu zionistischem Politiker nach Von Erhart Hohenstein In den Vorzimmern des Potsdamer Stadtschlosses wunderten sich die Hofbeamten und Lakaien: Fast eine Dreiviertelstunde sprachen Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe, der Staatsekretär für Äußeres von Bülow und Kaiser-Intimus Graf zu Eulenburg nun schon mit Theodor Herzl, der als Vorsitzender des Zionistischen Weltkongresses eine politisch eher unbedeutende jüdische Organisation vertrat. Viel zu lange für einen Routineempfang! Doch der beredte Wiener Journalist hatte den drei Herren ein hochinteressantes Projekt vorgestellt: Er wollte in Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte, jüdische Siedlungen für zwei Millionen Einwanderer einrichten und sie unter das Protektorat des deutschen Kaisers Wilhelm II. stellen. Dem Empfang im Stadtschloss am 9. Oktober 1898 waren Gespräche Herzls mit dem Kaiseronkel Großherzog Friedrich I. von Baden in Baden und in der Wiener Botschaft vorausgegangen, sowie mit Bülow in Berlin und in Liebenberg auf Eulenburgs Gut. Der hatte Herzl schließlich die angestrebte Audienz bei Wilhelm II. auf der unmittelbar bevorstehenden Türkeireise des Monarchen zugesagt. Diese Reise bildet einen Schwerpunkt der Ausstellung „Der Traum vom Orient“, die zurzeit im Neuen Palais gezeigt wird. Das nahm die stellvertretende Schlosskastellanin Kathrin Külow zum Anlass, in einem Vortrag und in einer Sonderführung den Beziehungen zwischen Wilhelm II. und Herzl nachzuspüren. Der zionistische Politiker musste sich nach dem Gespräch im Stadtschloss beeilen: Mit fünf Mitstreitern setzte er sich in den Zug Richtung Konstantinopel, wo er am 16. Oktober eintraf. Zwei Tage später sollte die Audienz stattfinden. Der Gesandte von Bieberstein schmettert deren Anmeldung allerdings mit der Frage „Wer ist Dr. Herzl?“ ab, doch der erreicht durch einen persönlichen Brief an Wilhelm II. dennoch das Treffen, das am 18. Okober gegen 18 Uhr im Merassimkiosk (Gästehaus) von Konstantinopel stattfindet. Der Kaiser, der sich spontan für kühne Projekte begeistern konnte, ist beeindruckt von Theodor Herzl, den er später „einen klugen intellektuellen Kopf“ und „leidenschaftlichen Idealisten“ nennt. Auch der feiert seinen Gesprächspartner. Ihm war, als habe er „im Wunderwald ein Einhorn getroffen“, schreibt er überschwänglich. Das kaiserliche „Einhorn“ verfolgte aber mit der Audienz durchaus realpolitische Ziele. Nach Palästina sollten, spekuliert es, revolutionäre Sozialdemokraten aus der jüdischen Intelligenz übersiedeln, aber auch Teile der Landbevölkerung Hessens, die starkem antisemitischem Druck ausgesetzt war. Beim Aufbau eines eigenen Siedlungsgebietes könnten die „Mauscheler“ (von jiddisch mauscheln, unsaubere Geschäfte machen) Nützlicheres leisten als „deutschen Christen das Blut auszusaugen“, äußert der Monarch unverblümt. Er geht davon aus, dass die reichen jüdischen Familien Westeuropas Herzls Idee finanziell unterstützen. Doch die lehnen dessen „jüdischen Nationalismus“ ab und stecken wie die Bankiers Rothschild und Hirsch ihr Geld in eigene Siedlungsprojekte. Wilhelm II. sagt Herzl zu, den Plan einer jüdischen Landgesellschaft für Palästina mit dem Sultan zu erörtern. Doch Abdül Hamid II. winkt ab: Er würde mit der Zulassung eines Autonomiegebietes einen weiteren Herd ethnischer und religiöser Spannungen in seinem Vielvölkerstaat schaffen. Auch Bülow macht Vorbehalte geltend: Er weiß, dass die europäischen Großmächte das Protektorat als Versuch werten, das politische Kräfteverhältnis im Orient zugunsten Deutschlands zu verschieben. Damit ist der Stab über das Vorhaben gebrochen. Dennoch reist Herzl dem Kaiser bis Jerusalem nach, begegnet ihm nahe Jaffa zufällig bei einem Ausflug und erreicht für den 2. November eine zweite Audienz. Die Rede dafür muss er vorher bei Bülow einreichen, der sie zensiert. So streicht er die Bezeichnung „jüdische Erde“ für Palästina. Auch Wilhelm II. ist wie verwandelt, spricht offenbar einen vorgegebenen Text. Der Rest sind höflich-unverbindliche Gespräche im Audienzzelt. Enttäuscht reist Theodor Herzl über Ägypten nach Europa zurück. 1904, in seinem Todesjahr, erklärt die deutsche Regierung, dass sie keinerlei politische Interessen in Palästina verfolgt. 13 Jahre danach, am Ende des Ersten Weltkrieges, erfüllt sich dennoch der Traum des zionistischen Politikers. Mit dem Mandat des Völkerbundes (1920) bringt Großbritannien den späteren Staat Israel auf den Weg.

Erhart Hohenstein

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