Kultur: Er macht sein Leben zur Erzählung
Hellmuth Karaseck liest in der Urania
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Wilhelm Buschs Unglücksraben Hans Huckebein macht er am Ende zum Stichwortgeber für sein Lebensmotto. Den aufsässig-bösartigen Vogel also, der nach der Gefangennahme durch den vorwitzigen Jungen Fritz im Haushalt der Tante Lotte ein Chaos anrichtet, bevor sein Leben durch einen alkoholbedingten Unfall vorzeitig endet. „Er hebt das Glas und schlürft den Rest, weil er nicht gern was übrig lässt“, zitiert Hellmuth Karasek in seinem Erinnerungsbuch „Auf der Flucht“ die Zeilen, in denen der Anfang vom Ende beschrieben wird. Am kommenden Dienstag liest der Literaturkritiker, Journalist und Professor für Theaterwissenschaft in der Urania aus seinem Buch.
Fünfmal erlebte der 76-Jährige seit seiner Geburt im heute tschechischen Brno (Brünn) 1934 die Flucht, fünfmal packte er seine Sachen und ließ das meiste zurück. Aus Brünn ins heute polnische Bielsko-Biala in Schlesien, von wo die Familie vor der anrückenden Roten Armee gen Westen flüchtete und schließlich nach der Kapitulation 1945 ausgewiesen wurde, ins Erzgebirge und schließlich nach Bernburg an der Saale kam. 1952 dann die fünfte und letzte Flucht, nach West-Berlin, als das gerade noch möglich war: „Sie vollzog sich mit bürokratischer Akkuratesse, ordnungsgemäß, nach deutschen Gesetzen“, schreibt Karasek.
Von da an nimmt sein Leben als schillernde Figur des westdeutschen Literatur- und Kulturbetriebs seinen Lauf. Karasek schildert es unterhaltsam, im gelehrten Plauderton, schreibt von zufälligen Begegnungen, von Mentoren und Liebschaften, reflektiert über Gelesenes und auf der Bühne Gesehenes, und spickt seine Erinnerungen mit unzähligen Kurzporträts seiner Mitstreiter und Gegenspieler, von der ersten Zeit als Volontär in der Kulturredaktion der Stuttgarter Zeitung über seine Zeit als Theaterkritiker bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ und als Literatur- und Filmkritiker beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bis hin zu seinem zwölfjährigen Engagement neben Literaturpabst Marcel Reich-Ranicki in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“, die ihn auch jenseits der Feuilleton-Leserschaft zum Star gemacht hat – mit allen Segnungen und Flüchen, wie Karasek lakonisch notiert: „So passe ich in öffentlichen Waschräumen höllisch auf, sie möglichst in einem besseren Zustand zu verlassen, als ich sie vorgefunden habe. Es könnte mich sonst jemand, der mich erkennt, öffentlich anschwärzen.“
Sein Erinnerungsbuch ist trotzdem mehr als ein „Who-is-Who“ des Kulturbetriebs. Denn Karasek sucht auch nach der Wahrheit über seine Familie, in der der Onkel Arthur, wie er an einer Stelle vermutet, „der einzige Nicht-Nazi“ gewesen ist. In der Wohnung des traurigen Onkels, der den Fall Deutschlands schon früh vorhergesagt habe, sei er sich als damals Sechsjähriger wie der Unglücksrabe von Wilhelm Busch vorgekommen. „Wer sich erinnert, erfindet sich noch einmal“, schreibt er zu Beginn des Buches: „Er macht sein Leben zur Erzählung.“ Jana Haase
Am 19. Oktober um 18 Uhr in der Urania. Die Lesung ist ausverkauft.
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