Kultur: Erzähltalent
Léda Forgó in der Stiftungsbuchhandlung
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Die Geburt ist der Anfang des Sterbens, das Sterben der Anfang einer neuen Geburt, so sagt man gelegentlich. Mit einer Geburt beginnt der Debütroman von Léda Forgó, mit einer solchen endet er auch. „Der Körper meines Bruders“ (Atrium Verlag), am Dienstag in der Stiftungsbuchhandlung vorgestellt, ist ein ganz ungewöhnliches Buch mit einer besonderen Geschichte. Seine Autorin stammt aus Ungarn, lebt aber seit 14 Jahren in Deutschland. Ihr Roman bezieht sich auf längst zurückliegende Ereignisse, welche sie selbst nie erlebte, doch wirken sie so authentisch, als sei sie, beim Aufstand 1956 oder bei den zwölf Jahre später gen CSSR durchrollenden Russenpanzern, selbst dabeigewesen.
Sie wollte keinen Roman über den sinnlichen Körper, und hat es dennoch getan. Sie wollte etwas schreiben, worin „kein Wort wahr ist“, dennoch wirkt dieser kunstvolle Text um Bo, die keine Mutter sein will, glaubhaft – und sie schrieb ihn, sich als deutsche Autorin verstehend, in Deutsch. Außerdem kann die in Berlin lebende dreifache Mutter auch sehr überzeugend vorlesen.
1953 liegt diese Bo in einem Budapester Krankenhaus, sie erwartet ein Kind. Als ihr Sohn Palkó da ist, sagt der Arzt ungerührt „da ist noch was drin“. Eine Zwillingsgeburt, aber das Mädchen Borka will gar nicht in diese Welt, erst eine Zangengeburt bringt sie, mit einer Narbe auf ihrem Kopf, ans Licht. Diese Borka ist es nun auch, welche diese Szene und alle weiteren Szenen erzählt. Während des Aufstands läuft die Mutter mit ihren Kindern auf die Straße, Palkó wird von einem Querschläger getötet. Borka ist dicht neben ihm, sie spürt, daß ihr Bruder „rot gepinkelt“ hat und dabei immer kälter wird, erst später wird ihr klar, dass er tot ist. Die Art, wie diese Szene beschrieben wird, steht einer nächsten an Eindringlichkeit in nichts nach: Weil Mo sich weigert, eine Zwillingsmutter zu sein, übernimmt der Kindsvater diese Rolle, doch bald darauf erhängt er sich. Borká schildert diese Szene in kindlich naiver Optik. Eine gute Mutter kann Bo nicht gewesen sein, wenn sie gelegentlich trödelte, ihr Kind aus dem Kindergarten abzuholen, wenn sie sich einem fiesen Kerl verschrieb, im Text nur „Genosse“ genannt, des Mädchens Borká dabei nicht gedenkend.
Die Geburtsszene eingangs schrieb Léda Forgó, bevor sie ihr ersten eigenes Kind bekam. Sie recherchierte „Zeitgeschichte“, sah Filme, interessierte sich besonders für dokumentarische Fotos. Es ging der Fünfunddreißigjährigen nicht darum, einen Familienroman zwischen 1956 und 1968 zu schreiben, sie wollte „die Atmosphäre“ jener Jahre einfangen. Ein interessantes Verfahren, seiner Vorgänger-Generation auf die Schliche zu kommen, doch gar nicht so einfach, denn die Zeitzeugen erwiesen sich gelegentlich unzuverlässiger als die Fantasie dieser zierlichen Frau. 2008 erhielt sie einen Förderpreis im Namen Chamissos, da ist noch mehr drin.
Politische Atmosphären und sehr persönliche Dinge geben diesem dichten, oft mit poetischer Feder geschriebenem Roman eine ganz eigenwilllige Dimension. Léda Forgós Erzähltalent ist phänomenal, die Art, Situationen durch das Nadelöhr „Kunst“ zu fädeln, sogar vorbildlich. Stets dabei in dieser „unwahren Geschichte“ der Körper des Bruders, die andere, fehlende Hälfte des Zwillings, bis zum fünfzehnten Jahr ... Gerold Paul
Gerold PaulD
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