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Kultur: Flucht, Vertreibung, Verlust
Am morgigen Donnerstag hat im Thalia der Dokumentarfilm „Aber das Leben geht weiter“ Premiere
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Blumen, Gemüse, Obstbäume wachsen hier wie dort. Doch die Äpfel und Mirabellen schmecken nirgends so saftig wie am Ort der Kindheit. Der Dokumentarfilm „Aber das Leben geht weiter“, der am morgigen Donnerstag im Thalia seine Kinopremiere erlebt, erzählt davon, wie menschliche Wurzeln gekappt werden. Er macht sich auf den Weg zurück in die Nachkriegswirren, als Familien mit ein paar Habseligkeiten aus ihren Häusern vertrieben und zu einer Reise ins Unbekannte gezwungen wurden.
Drei polnische und drei deutsche Frauen aus mehreren Generationen kommen in dem aus ganz privater Perspektive erzählten Film zu Wort. Sie treffen sich in dem einst niederschlesischen Dorf Niederlinde, das heute Platerówa heißt und 25 Kilometer von Görlitz entfernt liegt.
Es ist ein beschaulicher Ort mit niedrigen alten Fachwerkhäusern, maroden und neuen Eigenheimen. Lange Wege führen in die mit Getreide bestellten Felder. Die Menschen haben ihr Tun, sind mit Traktoren am Pflügen oder beackern mit Spaten und Hacke ihre eigene kleine Wirtschaft. Wie die schon etwas gebückt gehende Edwarda. Wo sie heute pflanzt und erntet, spielten vor 1946 die Schwestern Ilse Kaper und Hertha Christ Fangeball. Bis sie sich im Juni 1946 nur mit Handgepäck auf dem Sportplatz einfinden mussten und wie alle deutschen Familien, begleitet von der polnischen Miliz, ins Ungewisse geführt wurden. Sie wussten nichts von den Beschlüssen der Siegermächte und reisten eine Woche mit dem Zug gen Westen ins „Irgendwo“.
Vor laufender Kamera singen die Schwestern so wie damals als Kinder: „Adé nun mein Heimatland. Jetzt muss ich fort ins fremde Land. Lieb Heimatland adé“. Die Augen füllen sich mit Tränen, von den Erinnerungen überwältigt. Ansonsten schwingt in diesem Film keinerlei Pathos mit. Die Frauen machen sich mit gemischten Gefühlen auf den Weg von Bremen an der Weser, ihrem neuen Zuhause, zurück an die Neiße. Wie wird es dort aussehen nach so vielen Jahren? Die deutschen Frauen werden freundlich empfangen, essen polnisches Gebäck, gehen ohne Vorurteile aufeinander zu: in dem Haus der Kindheit, das heute von Edwarda Zukowska und ihre Familie bewohnt wird. Auch sie ist eine Vertriebene, wurde 1940 in die Taiga abtransportiert: drei Wochen in Viehwaggons eingepfercht. Die Toten wurden neben die Schienen gelegt, einfach liegen gelassen.
Der deutsche Überfall auf Polen und später der Einmarsch der sowjetischen Armee im Osten Polens waren der Anfang sogenannter „ethnischer Säuberungen“ in den besetzten Gebieten und führten zur Deportation unzähliger Polen in weit entfernte Gebiete der UdSSR. Edwarda Zukowska kam erst nach Sibirien, dann nach Kirgisien und am Ende des Krieges schließlich nach Niederlinde. Da sie in die polnische Einheit der Sowjetarmee eingezogen wurde und dort gekämpft hatte, bekam sie einen Hof geschenkt, den von Hertha, Ilse und deren Eltern.
Der Film von Karin Kaper und Dirk Szuszies spiegelt sehr persönlich Geschichte. Die große Politik, die die Menschen wie Schachfiguren hin- und herschob, wird dabei unaufdringlich miterzählt.
Immer wieder sind Schienenstränge zu sehen, die inzwischen von Gras überwachsen sind. Anders als die Erinnerungen, die noch immer hochschwappen, auch nach 65 Jahren. Ohne zu polemisieren wird die doppelte Vertreibungsgeschichte erzählt: sowohl auf deutscher als auch auf polnischer Seite. Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern um Annäherung.
Den Grünkohl, den die 87-jährige Edwarda heute anbaut, kannte sie aus ihrer Heimat nicht. Er ist ein Zugewinn. Heidi Jäger
Kinopremiere und anschließendes Gespräch mit den Regisseuren am 24. November, 19 Uhr, im Thalia. Karten für 8,50/ ermäßigt 6,50 Euro unter Tel. (0331)743 70 20. In Zusammenarbeit mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg
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