Kultur: Gegen die Einseitigkeit
Richard Schröder über Irrtümer der Einheit
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„Man kann Deutschland und seine Einwohner nicht immer noch nach Zonengrenzen einteilen“, sagt ein Herr aus dem Publikum und fügt energisch hinzu: „Schluss damit!“ Damit spricht er Richard Schröder aus der Seele, der zuvor sein aktuelles Buch „Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit“ vorgestellt hat. Sein biografischer Hintergrund spricht für ihn: er war 1990 Mitglied der letzten Volkskammer der DDR, danach Verfassungsrichter und hat seit 1993 einen Lehrstuhl für Philosophie und Systematische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin.
Der Raum in der Landeszentrale für Politische Bildung in Potsdam ist voll. Bis auf den Flur sitzen und stehen Zuhörer, die von Schröders Buch einen Ausbruch aus dem Einheitsbrei der Bücher über die Wiedervereinigung erhoffen. Maßlos geärgert habe Schröder sich über Bücher wie „Supergau Deutsche Einheit“ von Uwe Müller oder Wolfgang Herles „Wir sind kein Volk“. „Vieles stimmt sachlich einfach nicht“, sagt Schröder und setzt an, einige Irrtümer der deutschen Einheit mit Sachkenntnis, aber nicht ohne Humor und Ironie zu zerpflücken.
Das Bild vom Fass ohne Boden zum Beispiel, das einige Politiker gern als Metapher für die finanzielle Förderung des Ostens benutzen, baut Schröder etwas um: „Das Fass hat ein Rohr und das führt zurück in den Westen.“ Ihn stören die Einseitigkeit bei der Diskussion und das Einbahnstraßen-Denken. Schließlich gebe es auch einen Fachkräfte-Transfer von Ost nach West. Analytisch rechnet Schröder zudem vor, wo das Fördergeld eingesetzt wird: ein Großteil sind sozialpolitische Ausgaben, wie Kindergeld, Bafög und Arbeitslosengeld. „Aber wir können ja alle Arbeitslosen nach Bayern schaffen“, schlägt Schröder lachend vor, dann würde man im Osten weniger Geld brauchen. Der Osten würde oft als Konjunkturbremse dämonisiert: „Wenn sich der Boden öffnen würde und die ehemalige DDR verschlingen würde, dann würden wir jährlich 120 Milliarden Euro Ausgaben sparen“, töne es von populistischen Politikern. Das aber auch Länder wie das Saarland und Bremen Finanzspritzen vom Bund nötig haben, würde ungern mit in die Diskussion genommen.
Die große Debatte dieses Sommers bleibt auch nicht unkommentiert: die Prügeljagd auf Inder im sächsischen Mügeln war für viele der Beweis, dass der Osten die Brutstätte des Rechtsextremismus ist. „Aber Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Problem, kein ostdeutsches“, sagt Schröder. Zudem sei zum Beispiel der in Parteien organisierte Rechtsextremismus in den alten Bundesländern stärker ausgeprägt als im Osten. Das sage er nicht, um die ohne Frage problematische Situation zu verharmlosen. „Man muss aber Fremdenangst und Rechtsextremismus unterscheiden, weil man auch für Pest und Cholera unterschiedliche Medizin benötigt.“
„Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit“ ist ein wichtiges Buch und gleichzeitig eine erfrischende Lektüre. Dass die schlechte Stimmung im Jammertal Osten oftmals mediale Polemik ist, hat man schon lange vermutet. Schröder liefert endlich die Zahlen und den sachlichen Hintergrund dazu. Er würde sich wünschen, dass die Deutschen den 3. Oktober nicht nur als freien Tag, sondern als wirklichen Feiertag begehen würden: „Das Gedenken an die Wiedervereinigung ist schließlich ein Grund zur Freude.“ Christoph Henkel
Richard Schröder, „Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit“, Herder-Verlag, 16,90 Euro.
Christoph Henkel
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