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Von Dirk Becker: Gelungenes Spiel mit Gegensätzen

Nach dem preisgekrönten „Unland“ hat Antje Wagner jetzt „Schattengesicht“ veröffentlicht

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Irgendwann, im Laufe des Gesprächs, gibt Antje Wagner dann selbst das entscheidende Stichwort. Kontraste, sagt sie.

Sehnsucht und Gewalt, Trauer und Lust, Schönheit und Grausamkeit. Es ist dieser Kontrast, der entsteht, wenn solche Gegensätze aufeinanderprallen, der ihr Schreiben prägt. Kontrastphänomen, sagt Antje Wagner und wirkt für einen kurzen Moment selbst ein wenig verwundert über diese seltsame und gleichzeitig so wirkungsvolle Mischung.

Mehrmals hat sie schon das Künstlerhaus im Schloss Wiepersdorf besucht. Eine dörfliche Idylle im Niederen Fläming, wo die Straßen Namen wie „Am Konsum“ tragen und Schriftsteller, Musiker und Komponisten Aufenthaltsstipendien zwischen zwei und sechs Monaten bekommen können. Und dort, an diesem wunderschönen Ort, habe sie dann vorwiegend dunkle und grausame Geschichten geschrieben. „Bin ich aber gerade an einem Ort, der grau und voller Tristesse ist, werde ich ganz romantisch“, sagt Antje Wagner.

Kontraste, die die Schriftstellerin hervorragend zu inszenieren versteht. Die gleichzeitig aber auch helfen können, den Mensch Antje Wagner zu verstehen.

Mittlerweile acht Bücher hat Antje Wagner, die seit ihrem Studium der deutschen und amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaften in Potsdam lebt, schon veröffentlicht. Ihr Jugendbuchdebüt „Unland“ wurde im Sommer mit dem „ver.di“-Literaturpreis ausgezeichnet. Im September ist „Schattengesicht“ erschienen, ein Kriminalroman. Gerade schreibt sie an ihrem zweiten Jugendbuch, das wohl im Frühjahr 2012 erscheinen wird. Und dann ist da auch schon die Idee für den nächsten Thriller. Eine Vielschreiberin, möchte man meinen. Doch Antje Wagner widerspricht sofort. Zwar habe sie mit „Unland“ und „Schattengesicht“ in diesem Jahr gleich zwei Bücher veröffentlicht. Doch sei das die Ausnahme.

Habe sie aus einer Idee den Rohbau für eine neue Geschichte, ein neues Buch entwickelt, beginne erst die wirkliche Arbeit. „Da kann es passieren, dass ich alles 30 bis 40 Mal wieder umstelle“, sagt Antje Wagner. Wäre da nicht ihr Agent, wären da nicht die Verlage, die auf ihre Abgabetermine bestehen, sie könnte immer so weitermachen und immer wieder aufs Neue die Geschichten umstellen. An „Unland“ habe sie zwei Jahre gearbeitet. „Und immer öfter höre ich jetzt, dass Kinder das Buch innerhalb von zwei Tagen gelesen haben“, sagt sie. Doch empört klingt das nicht wirklich.

Wer der 36-jährigen Antje Wagner zum ersten Mal begegnet, muss fast schon zwangsläufig an „zierlich“ oder „zerbrechlich“ denken. Doch schon nach den ersten Minuten im gemeinsamen Gespräch wird klar, dass diese Frau zwar zierlich ist, aber auf keinen Fall zerbrechlich.

An ihr ist keine Scheu, sondern herzliche Offenheit. Sie ist keine zurückhaltende Gesprächspartnerin, sondern eine packende, fast schon mitreißende Erzählerin, die sich immer wieder unterbricht und ein wenig erschrocken fragt, ob sie jetzt nicht zu viel rede. Und immer wieder antwortet man ihr: Ganz im Gegenteil.

Antje Wagner lacht gern. Und schnell erkennt man, dass einem da ein Mensch voller Lebensfreude gegenübersitzt, der einen dann aber plötzlich mit Sätzen überrascht wie: „Ich mag die Schatten“.

Wer Antje Wagners Jugendbuch „Unland“ oder ihren Kriminalroman „Schattengesicht“ gelesen hat, den mag dieses Bekenntnis nicht ganz so unvermittelt treffen. In „Unland“ erzählt sie die Geschichte der 14-jährigen Franka, die neu in einem Wohnprojekt für sieben Kinder und Jugendliche im Dorf Waldenburg den Geheimnissen einer unheimlichen Ruinenlandschaft am Waldrand nachgeht.

In „Schattengesicht“ erzählt Antje Wagner von Milana und Polly. Zwei junge Frauen, die ein dunkles Geheimnis mit sich tragen und schon seit anderthalb Jahren auf der Flucht sich in Abrisshäusern verstecken. „Über steile Treppen ging es zu den Stockwerken, durch deren feuchte Dunkelheit sich Gänge gruben. Wir hatten mit der Taschenlampe hineingeleuchtet, und die Gänge hatten in dem dünnen Licht geschwankt. Manche Wohnungstüren fehlten, und die schwarzen Öffnungen schienen nach dem Licht zu schnappen. Sie strömten einen dumpfen, undefinierbaren Geruch aus. Ein böser Kindertraum von Schloss. Kein Laut darin. Nichts. Das Haus war von Anfang an so still gewesen, als läge es im Sterben. Doch der Tod hauste nur in den unteren Etagen. Wir wohnten oben“, schreibt Antje Wagner in „Schattengesicht“. Und: „Als würde das Haus seine Schatten um alles Lebendige schlingen, und wäre es nur eine Stimme.“

Das Dunkle, das Schatten wirft, in dem sich Geheimnisse nicht nur verbergen, sondern auch gut verstecken lassen. Ein Schattenreich, das sich auch Psyche nennen lässt. Ein dunkler Ort der Grenzüberschreitungen, der die Schriftstellerin Antje Wagner so fasziniert, dass sie die Auseinandersetzung damit als ihr schriftstellerisches Grundthema bezeichnet.

„Mit jedem Buch habe ich zwar ein anderes Genre gewählt, aber die Form der Grenzüberschreitung, das Hineingehen in die Psyche meiner Figuren, das zieht sich wie ein roter Faden durch all diese Geschichten.“ Ihr erstes Buch „Der gläserne Traum“, das sie mit 24 Jahren geschrieben hat, war ein Liebesroman. Mit „Lüge mich“ erprobte sie sich auf dem experimentellen Feld. Danach Kurzgeschichten und mit „Ein Zimmer im Briefumschlag“ ein Roman in Form von Liebesbriefen. „Wenn ich ein Genre, die Strukturen durchschaut habe, brauche ich etwas Neues“, sagt Antje Wagner. Denn nichts sei für sie Schlimmer, als sich zu langweilen.

Und um dieser Langeweile zu entgehen, hat sie sich mit ihrem erfolgreichen Roman „Unland“ für das nicht ganz so ernstzunehmende Genre der Jugendbücher entschieden?

Antje Wagner bleibt gelassen. Sie lächelt sogar ein wenig, denn diese Einstellung überrascht sie nicht mehr. „Sogar Freunde und Bekannte haben mich gefragt, ob ich mich ein wenig ausruhen wollte, als sie hörten, dass ich ein Jugendbuch schreibe.“ Doch genau das Gegenteil sei der Fall gewesen. Ein solches Jugendbuch zu schreiben, sei erheblich schwieriger. „Denn hier schreibe ich nicht nur für ein Lesepublikum“, sagt Antje Wagner.

Mit „Unland“ wollte sie sowohl jugendliche als auch erwachsene Leser erreichen. So hat das Buch nun eine spannende Handlungsebene und als Subtext, „unterirdisch“, wie Antje Wagner es nennt, eine psychologische Ebene. Denn diese mysteriöse Ruinenlandschaft am Waldrand ließe sich auch als Seelenlandschaft voller unaufgearbeiteter Probleme lesen. Jugendbüchern hafte vor allem deswegen das Image gewisser Unernsthaftigkeit an, weil viele glauben, hier stehe nur der pädagogische Zweck im Vordergrund. „Ein gutes Jugendbuch ist immer auch gute Literatur“, sagt Antje Wagner. Ein Gradmesser dafür sei der zeitliche Abstand.

„Wenn ich als Kind ein Buch mit Begeisterung gelesen habe, es nach Jahren als Erwachsener wieder zur Hand nehme und nicht gleich enttäuscht weglege, sondern es vielleicht sogar neu entdecke, dann ist das ein gutes Buch.“ Dass „Unland“ in diese Kategorie zu fallen scheint, zeigen ihr die zahlreichen Erwachsenen, die auch zu ihren Lesungen kommen und dann gespannt wie die Kinder der Handlung folgen. Nur die Wucht der Überraschung wird sich beim zweiten Lesen nicht wiederholen können. Denn das gehört auch zur schriftstellerischen Kunst von Antje Wagner, dass sie den Leser die ganze Zeit auf eine falsche Fährte führt, um ihm dann zum Ende hin mit einer plötzlichen Wendung förmlich den Boden unter den Füßen wegzureißen.

Doch wer Antje Wagner kennen lernt, für den mögen solche Überraschungen nicht mehr ganz so überraschend sein. Denn dieses Spiel mit den Gegensätzen, aus dem das Kontrastphänomen resultiert, zeigt nicht nur ihre schriftstellerische Seite. Es zeigt auch den Menschen Antje Wagner, der sich nicht einfach einordnen lassen will. Und einen so trotzdem immer wieder überrascht.

„Unland“ ist im Berlin Verlag erschienen und kostet 16,90 Euro, „Schattengesicht“ im Querverlag und kostet 12,90 Euro

Dirk Becker

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