Von Heidi Jäger: Getanzte Zweifel
Crystal Pite taucht heute mit ihrer Companie in die schwarze Materie ein
Stand:
Ihre Hände gleiten sanft und flink wie ein Fluss durch Kaffeetassen und Frühstücksteller. Crystal Pite vergisst Brot und Obst, wenn sie über über die schwarze Materie redet. Die Gespräche an den anderen Tischen im Hotel Mercure scheinen zu verschwinden, so bannt die kanadische Tänzerin und Choreografin mit ihren Ausflügen ins unfassbare Universum. Ihr Stück „Dark Matters“, mit dem sie heute zu den Tanztagen in der „fabrik“ gastiert, will die „Terra incognita“, das unbekannte Land, in magische Bilder gießen. Dazu lässt sie eine riesige Puppe „tanzen“, bewegt durch sechs schwarzverhüllte Körper, die für den Zuschauer fast unsichtbar werden. Crystal Pite bedient sich dabei der Technik des Bunraku, von der sie sich bei ihren mehrmaligen Aufenthalten in Japan selbst verführen ließ. „Man vergisst förmlich, dass die Puppe von anderen gelenkt wird, weil man an die Selbstbewegung glauben will.“
„Dark Matters“ ist in verschiedenen Etappen und über mehrere Jahre entstanden. Zwei Stücke, die sie für Schweden und für die Niederlande kreierte, widmete sie bereits zuvor dem Prozess des Entstehens und Zerstörens. Es ist nicht das wissenschaftliche Ergründen, was die 39-Jährige an der in den 70er Jahren entdeckten dunklen Materie fasziniert, sondern eher das Nichtwissen. „Es hat für mich Parallelen zu dem Nichtwissen über unsere Seelen und Köpfe. Und es ist wie eine Metapher für das eigene kreative Tun: Man arbeitet ständig an Sachen, die man nicht wirklich fassen kann.“
Sie vergleicht es mit einer alten Landkarte aus dem Mittelalter, als man die Welt noch nicht kannte, aber dennoch etwas aus Ahnungen heraus benannte. Doch die Zweifel blieben. Und diese Zweifel sind es auch, die sie zulassen und fassen möchte: in ihrer zerstörerischen wie motivierenden Kraft. „Es kann durchaus Energien auslösen, mit Seiten von sich zu leben, die man nicht richtig kennt.“
Natürlich muss sie als Choreografin ihren Tänzern mehr an die Hand geben als Zweifel, um ein Stück entstehen zu lassen. „Ich stelle immer ganz präzise Aufgaben. Zum Beispiel sollten sich die Tänzer versuchen, wie Schatten zu bewegen.“ Und schon kommen wieder ihre eigenen Hände ins Spiel, die Schatten formen und wie ein Fluss die Tischfläche füllen.
Doch Crystal Pite gibt sich nicht nur mit der Regie zufrieden, sie steht auch selbst auf der Bühne. „Diese Doppelbelastung ist sehr hart, aber dadurch hat man ein ganz anderes Verhältnis zum Stück. Man teilt mit den Tänzern das gleiche Schicksal.“ Außerdem tanzt sie einfach zu gern, um es nur den anderen zu überlassen. „Die Choreografie hat anfangs natürlich die Priorität, aber nachdem wir ,Dark Matters’ schon an die 30 Mal gezeigt haben, kann ich mich jetzt mehr darauf konzentrieren, auch eine bessere Tänzerin zu sein.“
Schon mit vier Jahren ging Crystal Pite, die in einer Kleinstadt bei Vancouver aufgewachsen ist, regelmäßig zum Tanzunterricht. „Das war anstrengend, aber ich liebte es es.“ Und sie kreierte auch bald eigene kleine Stücke, die sie vor Freunden, den Eltern und dem Bruder aufführte. Nicht nur zu Weihnachten. Acht Jahre war sie in der zeitgenössischen Ballettcompanie British Columbia, in deren Haus in Vancouver auch spannende Gastspiele stattfanden, wie von William Forsythe, einem der führenden Choreografen weltweit. Diesem Meister folgte sie fünf Jahre nach Frankfurt (Main) und war fasziniert von der Komplexität und Freiheit seines Stils. „Ich hatte das erste Mal den Eindruck, dass ein Tänzer dreidimensional tanzt.“ Und sie schaute sich auch bei anderen Größen um, sah immer wieder Arbeiten von Pina Bausch. Schließlich gründete sie 2001 ihre eigene Companie. Seitdem ist sie ständig auf Reisen. Energie muss sie unterwegs schöpfen, so wie jetzt beim Frühstück in Potsdam. „Ich kann nicht warten, bis ich wieder an meine Westküste komme und in der Natur auftanke. Aber die Städte in Deutschland sind eine große Inspiration für mich, vor allem in ihrem Zusammentreffen verschiedener Kulturen.“ Für die Potsdam hatte sie noch keine Zeit. Doch nach dem Frühstück wird sie sich auf Erkundung begeben. Sie ist schon gespannt, wie das hiesige Publikum auf ihr Stück reagieren wird, das sie eigentlich für eine sehr große Bühne geschaffen hat. „Hier wird nun alles sehr dicht, sehr konzentriert, sehr anders.“ Aber sie weiß auch, dass das deutsche Publikum Kunst sehr ernst nimmt, „es lehnt sich nicht zurück, sondern will wirklich sehen.“ Es sei selbstsicherer in der Beurteilung von Kunst als das Publikum Zuhause in Kanada, das immer verunsichert reagiere und glaube, zu wenig vom Tanz zu wissen. Dafür wurde dort viel über „Dark Matters“ gelacht. In Düsseldorf oder Frankfurt herrschte indes absolute Stille, aber am Ende gab es warmen Applaus.
Endlich findet Crystal Pite Zeit, sich ihr Schwarzbrot zu schmieren und lustvoll in den Apfel zu beißen. Aber eines muss sie schnell noch sagen: Für die nächsten drei Jahre kann sie die Koffer im Schrank lassen. Sie bekam in Frankfurt (Main) für ihre bald neunköpfige Companie eine „Residence“. „Das gibt mir mehr finanzielle Sicherheit und ich kann mich auch mal zurücklehnen.“ Um vielleicht noch tiefer in die schwarzen Löchern zu schauen.
Crystal Pite und ihre Companie „Kidd Pivot Frankfurt RM“ mit „Dark Matters“. heute und morgen, jeweils 20 Uhr, „fabrik“
Crystal Pite tanzte beim Ballett British
Columbia in Vancouver und William Forsythe in Frankfurt (Main), sie gründete 2001 ihre eigene Companie, ihre Arbeiten wurden
mehrfach prämiert.
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