Kultur: Helden des Glücks
Die DDR-Babyboomer wurden im Schatten der Mauer groß. Die Wende kam für sie genau zur rechten Zeit und machte sie zu einer Generation, der immer bewusst bleibt, dass sie von der Geschichte privilegiert ist.
Stand:
Wenn das Taxi langsam vor die große Anzeigetafel am Flughafen Berlin-Tegel rollt, damit der Fahrer das Gate gen Zürich, Wien, Sydney oder wohin auch immer ablesen kann, dann ist es da: das Gefühl. Mein Kopf nennt es das Silberne, weil es grad 25 Jahre alt wird. Gefühle sind launisch wie das Wetter. Sie lassen sich nicht abrufen. Das eine wird müde mit der Zeit, das andere schießt wie ein Komet unerwartet in einem hoch, das dritte rubbelt sich einfach ab, bis nichts mehr von ihm vorhanden ist. Das Silberne aber bleibt, was es ist. Es weiß nichts von Abrieb, eher wird es Jahr für Jahr noch stärker. Dabei ist es etwas, das sich bei Lichte besehen in nichts anderes übersetzen lässt als in reine Erwartung, Freude, innere Spannung. Und so stehe ich vor jedem Gate und sage mir jedes Mal dieselben drei Sätze: Das, was jetzt kommt, war für dein Leben nicht vorgesehen. Das solltest du nie sehen. Hinter diesem Gate liegt die Welt, und in die fliegst du jetzt hinein.
Lange Zeit war ich mir unsicher, wie es anderen Mauerkindern mit diesem Gefühl wohl geht. Und ob sie es überhaupt haben. Vielleicht muss ja jemand beruflich um die Welt jetten und kann sich das Dauergekribbel im Bauch gar nicht leisten? Vielleicht war die Welt mit der Zeit auch derart selbstverständlich geworden, dass es irgendwann mal genug war mit der dicken Glücksnummer. Seltsam schien es mir dennoch, dass ich zu diesem Gefühl nicht wirklich was finden konnte. Ich meine, über den anhaltenden Ausnahmezustand der Babyboomer des Ostens, die als Kinder der Teilung in den 60er-Jahren im DDR-Schatten der Mauer groß geworden sind.
Warum? Braucht über so viel ungemeines Glück nichts gesagt werden? Oder stimmte mit unserem Jahrhundertglück was nicht? Ich schaute mir die Bilder des Malers Neo Rauch an, zappte mich durch die Talkshows von Maybrit Illner, ging in ein Konzert von Rammstein. Hatten die was miteinander, sah man da etwas wie gemeinsame Prägungen, Haltungen, Vorlieben, Erinnerungen, Referenzen, Klischees? Dieselbe Freude? Aber wieso auch? Was wollte ich denn sehen? Dabei ist es ja so, dass Till Lindemann, Maybrit Illner und Neo Rauch als Kinder – wie alle in der Generation Mauer – einmal als „Kämpfer fürs Glück“ vorgesehen gewesen waren. So hieß es, und so sangen wir es, über Jahre hinweg, klassenweise. Das Lied, in dem unsere Siegernatur besiegelt war, trug den verheißungsvollen Titel „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“ und ließ wenig Raum für Missverständnisse. Am 7. August 1961, nur Tage vor dem Bau der Mauer, hatte die „Berliner Zeitung“ ihre „Straßen des Kommunismus im Kosmos“ veröffentlicht, auf denen Sputnik I, II und III sowie Lunek I, II und III mit grandiosem Schwung an Mars und Venus vorbeidüsten, um dem leider noch uninformierten All die glühende, rote Zukunft vorherzusagen. Welchen Part wir Kinder im Schatten der Mauer in diesem historischen Großprojekt zu spielen hatten, war von Anfang an klar.
Dabei sehe ich uns noch, wie wir in der zweiten oder dritten Klasse im polytechnischen Unterricht an langen Tischen hockten und uns aus Pappkarton Kosmonautenhelme schnitzten. Es musste etliches dabei bedacht werden. Welchen Umfang die Raumkapsel hat, über welchen Weg wir das Essen zu uns nehmen, wie der Kontakt zur Erde zu halten ist. Steffen bastelte sich einen viereckigen Helm in Silbergrau, Andreas baute sich einen dreieckigen und malte ihn bunt an. Meiner war rund und erdfarben. Wir setzten die Helme auf, stelzten mit ihnen um die Tische, stießen, weil wir nicht richtig sehen konnten, hilflos aneinander und schnappten schwer nach Luft. Wir waren Helden. Unsere Mission hatte Fahrt aufgenommen. Wir würden elend weit rumkommen. Im Hinblick auf die galaktische Unermesslichkeit würden unzählige kleine Sputniks in ihren winzigen Raumkapseln ins Nirgendwo wegstürzen, um die froheste aller Botschaften zu verkünden: Der Sieg des Kommunismus war entschiedene Sache, zumindest stand er unmittelbar bevor.
Wir Glücksritter können immerhin behaupten, bei den früheren Starts in den historischen Superlativ dabei gewesen zu sein. Das ist ein Wert an sich, wie ich finde, auch wenn er Schmerzen bereitet. Denn das Problem mit diesem Typ Bild ist, dass man trotz aller Hyperrealität nichts sieht – so wie man nichts heraussehen kann, wenn die Promis aus dem Osten heute ihr hochprofessionelles Ding machen. Denn was besagt das alles schon? Von außen mögen die Kosmonautenszenen witzig, skurril, überdreht, mag sein: noch befremdlich wirken, aber im Grunde geben sie nichts preis. Sie sind nach innen verkapselt, als müssten sie sich vor etwas schützen. Heute kommt es mir so vor, als ob wir in unserem überbordenden Eifer stundenlang an diesen blöden Kartonhauben herumbastelten, um etwas auf den Kopf setzen zu können, was unsere Blicke verbarg.
Und auch so musste mit uns Helden, eingenäht ins strahlende Kollektivglück des Ostens, in der Folge Schwerwiegendes passiert sein. Denn zur Generation Mauer gehören ja auch die, die in den Achtzigern in ihren kunterbunten, schrillen Outfits provokant und laut das Ende der DDR herbeifühlten. 1981 sang die Band „Planlos“: „Überall wohin’s dich führt / wird dein Ausweis kontrolliert / und sagst du einen falschen Ton / was dann geschieht, du weißt es schon.“ Eine Generation, die sich die ganze Ödnis, Schizophrenie und Doppelbödigkeit der DDR-Agonie aus dem Leib schrie, sang, stotterte, hampelte. Oder es versuchte. Heftig waren sie, die Kinder der Teilung, krass, nüchtern, hart. „Wir sind die junge Generation / doch was haben wir vom Leben schon / wir warten auf den Untergang / wir warten auf den Untergang / wir warten auf den Untergang“, grölte Shanghai, der Sänger von Vitamin A.
Wir Glückshelden waren zu Wartenden geworden, die sich mehr und mehr verkapselten. Nichts ging mehr. Vollkommen desillusioniert schlugen wir unseren politischen Auftrag aus und wollten keine Fackelträger sein, nicht verschimmeln in diesem Land, denn das sollten wir. Damit wurden wir – im Sinne eines Mehrheitsbewusstseins – zur einzigen Generation des Ostens, die 1989 klarmachte: nicht mehr reformieren, nicht mehr reden, nicht mehr verlängern, sondern endlich Schluss, aus, Ende mit dieser maroden DDR. Und so lag es auch auf der Hand, dass wir es sein würden, die im Sommer 1989 losgingen, über Ungarn und Tschechien das Land verließen, um qua Füße der Revolution den nötigen Drive zu geben. 60 Prozent derer, die seit 1984 die DDR verließen, waren Kinder der Teilung.
Es waren nicht Zwanzigjährige, die abhauten, sondern junge Leute, die der Utopie, in die sie hineingeboren wurden und ihren enormen Negativen zu entkommen suchten. Das Land zerschellte, unser Auftrag auch. Und dann? Waren wir jung und mit dem Herbst 1989 zugleich schon Geschichte. Ein Erfahrungsplus, wie sich herausstellte. Wir als explizit politische Generation und auch als letzte, die noch eine echte, weil reflektierte und emotionale Verbindung zum politisch extremen 20. Jahrhundert besitzt. Ein Pfand und eine innere Zeichnung, die nicht immer Vorsprung oder Gewinn war. Manche politische und private Hypothek wog schwer. Die Mauerkinder hatten zwar keinen realen Krieg mehr erlebt, wurden aber zu einer Generation der inneren Kriege, in der die Erfahrungen der Großeltern und Eltern aus zwei Weltkriegen, zwei deutschen Diktaturen und der Mauerparalyse binnenpsychisch ausgetragen und abgearbeitet wurde. Dabei ließ ihr neuer Auftrag nicht lange auf sich warten. Er ergab sich zwangsläufig. Wir Glücksritter wurden zur Aufklärungsgeneration, zu einer Generation der Rückkehrer, Rekonstruierer, Rechercheure und Entschweiger. Mit dem Auftrag, die Gewalt, die in uns hineingestopft wurde, zu transformieren. Und mit dem Wissen, dass uns die Geschichte eine Auseinandersetzung abgenommen hat, die Gleichaltrige heute in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Russland auf Leben und Tod führen müssen. Wer hätte im Herbst 1989 gedacht, dass Konflikte, die wir überwunden dachten, uns 25 Jahre später auf so brutale Weise wieder einholen werden?
Ihr Ausnahmezustand hat die Generation Mauer zu einer realistischen, unprätentiösen Generation gemacht. Was sie aber als Generation eint, ist vielleicht das, was ich das Silberne Gefühl nenne. Die Mauerkinder stehen vor den Gates überall in der Welt und sagen, dass sie Davongekommene sind, von der Geschichte Privilegierte. Sie erzählen sich als Glückliche, die wissen, dass sie einmal für ein ganz anderes Leben vorgesehen waren. Sie stehen da, voller Erwartung, Freude und innerer Spannung: Das jetzt am Gate könnte der Moment sein, wo sich noch einmal alles dreht und ein drittes Leben wartet.
Ines Geipel (54)
war in der DDR jahrelang Hochleistungs-
sportlerin. Heute lehrt sie an der
Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und
arbeitet zudem
als Publizistin.
Ines Geipel
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: